Besatzung,Kolonialherrschaft und Widerstand
A. Dirk Moses
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand.
Das Völkerrecht und die Legitimierung von Terror*
Die Begriffe „Besatzung“ und „Kolonialherrschaft“ sind seit dem Zweiten
Weltkrieg problematisch geworden, als die Massenverbrechen des Nazi-
Imperiums ihnen weitgehend die Legitimationsgrundlage als akzeptable
geopolitische Projekte entzogen hatten. Nicht von ungefähr gab Raphael
Lemkin, der polnisch-jüdische Jurist, der den Begriff des Völkermordes
bzw. Genozids1 geprägt hat, seinem berühmten Buch den Titel Axis Rule in
Occupied Europe (1944). Die folgende Entkolonisierung der Welt und die
Gründung der Vereinten Nationen (UN) signalisierten das Ende der alten
europäischen Imperien, die durch eine neue Ordnung unabhängiger Nationalstaaten
ersetzt wurden. Besatzungen und Kolonialherrschaft schienen
einem vergangenen Zeitalter anzugehören – das wenigstens war nach dem
Zweiten Weltkrieg die Hoffnung vieler.
Trotz alledem gehört Besatzung zum festen Inventar des Völkerrechts –
vor allem der Vierten Haager Konvention von 1907 –, weil sie die Normen,
wenn auch nicht die Wirklichkeit festlegt, unter denen bewaffnete Konfl ikte
und darauf folgende Besatzungen eroberter Territorien erfolgen sollen, bis
ein Friedensvertrag über deren weiteres Schicksal entscheidet. Nach 1945
fügten Neuerungen im Völkerrecht wie die Genfer Konventionen von 1949
und das Protokoll von 1977 weitere Schutzbestimmungen für Zivilisten unter
Besatzung hinzu. Sie eliminierten aber nicht die jahrhundertealte Tradition
der Rechtswissenschaft zur Kriegführung und ihren Folgen. Besatzungen
als solche – im Gegensatz zu Annexionen – sind demnach nicht illegal. Die
Bedeutung der Entkolonisierung und der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung
seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN 1948
liegt darin, dass ausländische Besatzung nun einer besonderen kritischen
Aufmerksamkeit unterliegt. Die Rechte von Menschen unter Besatzung, die
im Ideal der Selbstbestimmung enthalten sind, werden nun gegenüber der
* Ich danke drei anonymen Gutachtern sowie Sam Moyn für Kommentare zum Entwurf
dieses Aufsatzes, Reinhart Kößler für die Übersetzung und Olaf Berg für die Einladung, in
dieser Zeitschrift zu publizieren. Dieser Text wurde vor der Veröffentlichung des Goldstone-
Berichtes über den Gaza-Krieg verfasst.
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Fremdherrschaft geltend gemacht, zumal die UN-Generalversammlung in
den 1960er und 1970er Jahren Resolutionen zugunsten nationaler Befreiungsbewegungen
verabschiedet hat.
Angesichts des ambivalenten Status von Besatzung verwundert es nicht,
wenn anlässlich bestimmter Fälle Befürworter ebenso wie Kritiker sich auf
das Völkerrecht berufen. Diese Spannung ist vielleicht nirgends so offensichtlich
wie im Fall von Israel/Palästina. Der israelische Angriff auf Gaza im
Dezember 2008 und Januar 2009 warf alle wesentlichen Fragen auf: War Israel
trotz seines „Rückzuges“ 2005 noch immer die legale „Besatzungsmacht“
in Gaza? Auf welcher Rechtsgrundlage durfte es auf die Raketen der Hamas
antworten? Welches Recht auf bewaffneten oder unbewaffneten Widerstand
kommt – wenn überhaupt – den Bewohnern von Gaza (und im Grunde auch
der Westbank) zu? Bedeutete das Vorgehen Israels eine kollektive Bestrafung
und verletzte so Bestimmungen des Kriegsrechts? Unterliegt die Besatzung
der Westbank durch Israel den Haager und Genfer Konventionen, den beiden
wesentlichen Rechtsinstrumenten, die sich auf Besatzung beziehen? Und ist
die israelische Präsenz dort überhaupt eine „Besatzung“? Nach offi zieller
israelischer Lesart ist dieses Territorium „umstritten“ und nicht „besetzt“.
Das sind nur einige der Fragen, die dieser Fall aufwirft.
Wenn Befürworter der einen oder anderen Seite sich auf das Völkerrecht
berufen, um die andere zu kritisieren, so sind diese Appelle und Behauptungen
nicht so neu, wie die Kommentatoren in den Medien glauben. Sie
wurden seit den 1950er Jahren erhoben, als israelische Vergeltungsschläge
gegen jordanische Dörfer für grenzüberschreitende Angriffe palästinensischer
Guerillakämpfer wegen der hohen zivilen Opfer und des Vorwurfs
mangelnder Verhältnismäßigkeit heftige internationale Kritik auf sich zog.
Die gleichen Argumente richteten sich gegen den sogenannten „Zweiten
Libanon-Krieg“ 2006, der mit Raketenangriffen der Hezbollah auf israelische
Zivilisten begründet wurde.2
Es ist bezeichnend für den herrschenden Diskurs von Völkerrechtlern
und Moralphilosophen, dass die Besatzung in diesen Rahmen gestellt
wird. Ihr Interesse ist gewöhnlich gegenwartsfi xiert und statisch und darauf
ausgerichtet, einen mehr oder weniger festgelegten – und angeblich
neutralen – Rechtskomplex auf Einzelfälle anzuwenden.3 Eine historische
Analyse kann demgegenüber die dem internationalen System zugrunde
liegenden Prinzipien genauer in den Blick nehmen, die überhaupt erst den
Bezugsrahmen der rechtlichen, moralischen und politischen Debatte über
Besatzung erklären.
Dieser Beitrag versucht eine solche Analyse, indem er rechtswissenschaftliche
Positionen zu den verschiedenen Dimensionen der Besatzung
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 401
miteinander verknüpft: Kolonialherrschaft und Landnahme mit Kriegführung,
Selbstverteidigung und Ausnahmezustand. Es wird sich zeigen, dass
das Völkerrecht alles andere als eine neutrale Berufungsinstanz für Völker
unter Besatzung ist; vielmehr ist es Ausdruck eines expansiven, ursprünglich
europäischen Systems, das seit Jahrhunderten die Lizenz zu kolonialer
Expansion und zu terroristischer Gewalt gegen diejenigen geliefert hat, die
ihr widerstanden. Allzu leicht gerät Besatzung, ganz gleich, wie sie defi niert
ist, zur defacto-Annexion, und das Völkerrecht verleiht im Gegensatz zu
nicht-bindenden UN-Resolutionen indigenen Menschen wenig legale Anhaltspunkte,
um ihr Selbstbestimmungsrecht geltend zu machen.
Aus Platzgründen spare ich die Beziehung zwischen antikem und modernem
Naturrecht aus und konzentriere mich unter Bezug auf bestimmte
Autoren auf exemplarische Entwicklungen. Um die dem Völkerrecht zugrundeliegenden
Prinzipien deutlich herauszuarbeiten, betone ich die über 500
Jahre zu verfolgende Kontinuität bestimmter Rechtfertigungsstrategien für
staatliche Gewaltausübung und dauerhafte Besatzung unter Vernachlässigung
diskursiver Brüche und Veränderungen des historischen Kontextes. Ich beginne
mit Vitoria im 16. Jahrhundert und schließe mit einer kurzen Analyse
des jüngsten Konfl iktes in Gaza, um die legitimatorischen Verknüpfungen
von Besatzung, Sicherheit und Terror aufzuzeigen. Wenn meine Darstellung
daher unvollständig bleiben muss, so hoffe ich doch, dass diese kritische
Ideengeschichte die Schlüsselelemente einer bestimmten Tradition offen
legt – die schon durch das beständige gegenseitige Zitieren der Autoren
offenkundig ist –, mit der das westliche System staatlicher Macht sich dem
Rest der Welt aufzwingt.4 Dieser Aufsatz ist jedoch nicht als Verteidigung
indigenen Widerstandes gegen Besatzungen, Kolonialisierung und Kolonialherrschaft
gedacht. Er soll die rechtliche Seite der Konfrontation zwischen
Besatzer und Besetzten in ihrer historischen Kontinuität offen legen.
Die Ursprünge des Argumentationsmusters
Historiker des Völkerrechts beginnen ihre Darstellung gewöhnlich mit
Francisco de Vitoria (1485-1546), dem spanischen Theologen, Philosophen
und Begründer der Rechtsschule von Salamanca, dessen Schriften über Krieg
und Kolonialherrschaft als Beginn des „internationalen Denkens“ gelten
(vgl. Williams 1992; Onuf 1998; Fitzmaurice 2003). Seine Überlegungen zur
Behandlung der südamerikanischen Indianer durch die Spanier sind besonders
bedeutsam, weil sie so häufi g als Verteidigung indigener Rechte gegen
die räuberischen Europäer verstanden werden. Auch Lemkin sah Vitoria als
humanitären Helden, wie Las Casas als Fürsprecher der Schwachen gegen
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die Starken, der mutig dem althergebrachten Rechtsanspruch von Nationen
entgegentrat, sich gegenseitig zu unterwerfen, auszuplündern und sogar zu
vernichten.5 Sieht man näher zu, so zeigt sich, dass Vitoria in Wirklichkeit
eine Rechtfertigung europäischer Eroberung und sogar des Terrors lieferte,
freilich in entwaffnend humanistischen Begriffen. Diese Argumentationsweise
war desto effektiver, als sie in fataler Weise Moral und Gewalt im Sinne
subjektiv verstandener Selbstverteidigung miteinander verknüpfte. Dies
verdient genauere Betrachtung, weil es sich um den Kern des europäischen
Denkens über Kolonisierung, Widerstand und die Legitimität staatlicher
Gewalt handelt (vgl. Anghie 2004: 28, 293ff).
Es stimmt zwar, dass Vitoria die Eigentumsrechte der Indianer auf naturrechtlicher
Grundlage gegen die Vertreter des christlichen Rechtes zur
Unterwerfung und Ausplünderung der Heiden geltend machte. Aber damit
sagte er nicht, die Spanier sollten dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen
waren. Das „Recht der Nationen“ postulierte auch universale Freundschaft
und Geselligkeit und daher das Recht der Spanier die indianischen Länder zu
erforschen, dort Handel zu treiben und Ressourcen zu beziehen. Er schrieb
sogar, es handele sich um „Kriegshandlungen“, wenn Indianer die Spanier
an solchen Tätigkeiten hinderten, zumal dann, wenn andere Ausländer sie
auch betrieben (Vitoria 1917: 151/386; Cavallar 2002). Spanische Vergeltungsakte
waren daher „zulässiger Selbstschutz“ gegen deren Versuch
der „Vernichtung“; die Spanier durften nun die Indianer als „ihre bösen
Feinde“ behandeln „und gegen sie alle Rechte des Krieges beanspruchen,
ihre Güter rauben, sie gefangen nehmen, ihre früheren Herren ab- und neue
einsetzen“ (Vitoria 1917: 154f/393, 395). Das entscheidende Legitimationsinstrument
ist hier die Annahme, die Spanier würden von den Indianern zu
Verteidigungsmaßnahmen gezwungen, was nur funktionieren kann, wenn
der Charakter ihrer Anwesenheit von vorneherein außer Frage bleibt. Wir
werden sehen, dass diese Blindheit im späteren europäischen Denken eine
zentrale Rolle für die Verknüpfung zwischen Besatzung, Kolonisierung und
Gewalt spielen sollte.
Diese Blindheit war eine Funktion des Glaubens an die eigene großzügige
Menschlichkeit, eine Überzeugung, die in der Unterscheidung zwischen
der grenzenlosen Gewalt der antiken und zeitgenössischen Wilden auf der
einen Seite und der christlichen Europäer auf der anderen wurzelte. Vitoria
betonte wiederholt, regelrechte Ausrottung der Kriegsgegner sei verkehrt
und berief sich dazu auf die Lehre vom gerechten Krieg von Thomas von
Aquin. Gewalt war nur gerechtfertigt in der Verteidigung, um ein Unrecht
zu korrigieren und seine Wiederholung zu verhindern. Verschiedentlich
deutete er aber auch Ausnahmen an, in denen Gewalt letztlich keine Grenzen
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kannte: in Fragen der Sicherheit und militärischen Notwendigkeit. Obwohl
er daher abstritt, dass es generell zulässig sei, „unschuldige“ Angehörige des
Feindes „niederzumetzeln“, schrieb er doch auch, dass der „Fürst alles tun
darf, was nötig ist, um dem Feind Frieden und Sicherheit abzuringen; etwa
die Festung des Feindes zerstören und sogar eine solche auf dem Boden des
Feindes errichten, sollte dies notwendig sein, um einen gefährlichen Angriff
des Feindes abzuwenden“ (ebd.: 171/431). Dies bezieht sich auf feindliches
Eigentum. Was ist mit Zivilisten? Durfte ein Herrscher Maßnahmen zur
Abwendung eines künftigen Angriffs ergreifen, so durfte er in bestimmten
Fällen auch Unschuldige töten, etwa bei der Belagerung einer Stadt. „Der
Beweis dafür ist, dass anders selbst gegen die Schuldigen kein Krieg geführt
werden könnte und daher das Recht der Kriegführenden eingeschränkt
würde“ (ebd.: 179/448). Gewiss sollte die Regel der Verhältnismäßigkeit
beachtet werden, also durfte man nicht viele Unschuldige umbringen, um
wenige Schuldige zu bestrafen. Aber diese Beschränkung vertrug sich nicht
mit seinem Imperativ, „alles Nötige zu tun, um dem Feind Frieden und
Sicherheit abzuringen“ – dem Imperativ, dem militärische Befehlshaber in
der Hitze der Schlacht unweigerlich folgen. Daher war es zwar unzulässig,
Unschuldige unter den Feinden abzuschlachten, doch war es, „wenn der
Krieg sich auf unbestimmte Zeit hinzieht, ... rechtmäßig, alle Untertanen
des Feindes völlig auszurauben, seien sie nun schuldig oder unschuldig,
denn mit ihren Ressourcen unterhält der Feind einen ungerechten Krieg
und andererseits entzieht ihm die Ausplünderung seiner Bürger Kräfte“
(ebd.: 180/451). Am Ende hebelten Selbsterhaltung und Sicherheit – also
Staatsraison – die ethische Beschränkung der Gewalt aus.
Heute stellt die Ideengeschichte den Scholastiker Vitoria mit seinem
theologischen Rückgriff auf christliche Autoritäten humanistischen Theoretikern
gegenüber, die sich auf heidnische Klassiker beriefen und den
Krieg im Dienste der Republik verherrlichten (vgl. Tuck 1999). Diese Unterscheidung
kann auch übertrieben werden, bedenkt man Vitorias Beharren
auf Selbsterhaltung.
Der Sprung von Vitoria zu dem niederländischen Juristen Hugo Grotius
(1583-1645), der oft als „Vater des Völkerrechtes“ bezeichnet wird, war in
dieser Hinsicht gar nicht so groß. Die charakteristische Argumentation war
und ist bis heute, das Töten zu begrenzen, aber dann die nahezu grenzenlose
Gewaltanwendung in extremen Notsituationen zuzulassen (vgl. Rodick 1928;
Dunbar 1952; Brownlie 1963; Boed 2000; Gross & Ni Aolain 2001). Grotius
und seine Nachfolger – Hobbes, Montesquieu und selbst Kant – griffen
noch nachdrücklicher eine andere antike Tradition auf, nämlich das Recht
auf durch Angst begründete Präventivschläge. Unter Berufung auf Cicero
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argumentierten sie, eine entschiedene Machtasymmetrie mit dem Feind
und nicht nur ein unmittelbar bevorstehender Angriff dürfe rechtmäßig mit
Gewalt beantwortet werden. Potentiellen Gefahren galt es Widerstand zu
leisten. Umgekehrt nahm man an, dass der Besitz des „Ruhms“ einem Nachbarn
Furcht einfl ößen und so gegen seinen Angriff immunisieren werde (vgl.
Tuck 1999: 19f, 126ff, 186, 215ff, 228). Wir werden auf die Implikationen
der Prävention am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen.
Konnte Vitoria sich keinen legitimen Widerstand der Indianer gegen
die europäischen Eindringlinge vorstellen, wie stand es dann mit innereuropäischen
Kriegen? Schon im 18. Jahrhundert – also vor dem „Zeitalter
des Nationalismus“ – hatten Denker begonnen, sich mit der Beteiligung
des Volkes an Feindseligkeiten zu befassen. So versuchte der Schweizer
Diplomat und Denker Emer de Vattel (1714-1767), die Grausamkeit des
Krieges dadurch einzuschränken, dass er die legitime Teilnahme daran strikt
auf die unter Befehl handelnden Soldaten begrenzte. Die Einbeziehung der
gesamten Bevölkerung in die Militäraktionen bedeutete den Rückfall in eine
barbarische Vergangenheit: „Es wäre schwierig, ihn anders als durch die
völlige Vernichtung einer der Parteien zu beenden; das belegt das Beispiel
der Kriege des Altertums“, schrieb er (1835: 248/1959: 488). Und doch
meinte er, es sei unrealistisch, von Zivilisten zu erwarten, nicht spontan
ihr Territorium zu verteidigen, obwohl sie von der einfallenden Armee
rechtmäßig als Banditen behandelt und exekutiert werden konnten. Diese
Spannung zwischen einem moralischen Recht auf Widerstand und einem
legalen Recht, ihn zu unterdrücken, bestimmt noch heute das Völkerrecht.
Vattel bezeichnete mit bewundernswürdiger Offenheit, was Unterdrückung
bedeutete, nämlich Terror:
„Der Feind bedient sich nur des ihm zustehenden Rechts, des Rechts der
Waffen, das ihm zugesteht, in gewissem Maß Terror einzusetzen, um die
Untertanen des von ihm bekriegten Souveräns an leichten Entschlüssen zu
kühnen Handstreichen zu hindern, deren Erfolg für ihn verhängnisvoll werden
könnte.“ (Vattel 1835: 250/1959: 489)
Und mit „dem Feind“ meinte er die Gesamtheit der ausländischen Bürgerschaft,
weil der Krieg auf den Prinzipien der Kollektivmitgliedschaft beruhe:
„Denn von dem Augenblick an, zu dem eine Nation gegen eine andere die
Waffen ergreift, erklärt sie sich zum Feind aller Einzelpersonen, die diese
ausmachen und gibt ihnen das Recht, sie selbst als solche zu behandeln“
(1835: 248/1959: 488). Das ist die Überlegung, die im Ersten Weltkrieg
hinter dem britischen Kriegsziel stand, „Deutschland auszuhungern“ – die
feindliche Regierung unter Druck zu setzen, indem ihre Zivilbevölkerung
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 405
zur Zielscheibe wurde – und scheint auch heute die Politik Israels in Gaza
zu bestimmen (vgl. Vincent 1985; Amnesty International 2008).
Der deutsch-amerikanische Jurist und Autor einfl ussreicher Militär-
Kodizes für die Unions-Streitkräfte im Amerikanischen Bürgerkrieg Francis
Lieber (1800-1872) folgte geradewegs den Vorgaben Vattels. Einerseits galten
irreguläre Truppen, die weiterkämpften, nachdem ihre Armee kapituliert
hatte, als Kriminelle und konnten entsprechend behandelt werden, weil sie
die Kriegführung brutaler machten:
„... dieser Erneuerer des Krieges auf besetztem Gebiet ist immer mit der
äußersten Strenge des Kriegsrechtes behandelt worden. Der Kriegs-Rebell setzt
die Besatzungsarmee den größten Gefahren aus und greift vor allem störend
in die Milderung der Härte des Krieges ein, die zu den edelsten Zielsetzungen
des modernen Kriegsrechtes gehört.“ (Lieber 1880: 284f)
Wie immer lautete die Begründung, dass „das Volk eher ein passiver Untergrund
des Staates sei als ein wesentlicher Teil davon“ (ebd.: 285). Wie
aber zeitgenössische Gelehrte wie Karma Nabulsi (1999) gezeigt haben,
bestimmten nationale Befreiungskriege mit brutaler Guerilla-Kriegsführung
und Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) das ganze 19. Jahrhundert
hindurch das Kriegsgeschehen in Europa. Da er in den deutschen und griechischen
Befreiungskriegen gekämpft hatte, war Lieber sich dieser Realität
sehr wohl bewusst, und zweifellos ist dies der Grund für seine Anstrengungen,
Zivilisten aus dem Anliegen zur Einschränkung militärischer Gewalt
auszuklammern. Doch im Zeitalter der levée en masse war er sich auch im
Klaren, dass sich ein Volksaufstand nicht durch das Dekret eines Buchautors
ausschließen ließ. Daher vertrat er die Auffassung, ein solcher Aufstand sei
so weit zulässig und seine Teilnehmer wie Soldaten und nicht als „Kriegs-
Rebellen“ zu behandeln, wie diese in ausreichender Zahl dem Feind offen
entgegentraten; sie durften nicht als Zivilisten getarnt kämpfen. Legitime
Guerilla-Kriegführung gab es für ihn nicht (Lieber 1880: 286). Wie Vattel
unterschied er also zwischen dem moralischen Recht auf Widerstand und
dem legalen Recht, ihn zu unterdrücken. Im Ergebnis mussten indigene
Völker und Europäer unter Besatzung ihren Widerstand, sollte er legitim
sein und damit unter den Schutz des Völkerrechtes fallen, also so gestalten,
dass ihre Dezimierung unausweichlich war.6
Zwei Jahre später griff Liebers unionistischer Kollege, der Jurist und hohe
Beamte Henry Wager Halleck (1815-1872), im Rahmen seiner Überlegungen
über „Vergeltung“. auf seine Erfahrung im Amerikanischen Bürgerkrieg
zurück. Wie andere Autoren erklärte auch er, ein Staat dürfe vorübergehend
die Gesetze der Nationen verletzen, um einen Gegner zu zwingen, von einer
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Handlungsweise abzulassen, die diese Gesetze verletze. Wegen ihrer kurzen
Zeitdauer und Zielgerichtetheit erschien Vergeltung als eine Maßnahme, die
noch kein Krieg war. Interessant an Hallecks Version ist das charakteristische
westliche Selbstverständnis, eigene Gewalt als defensiv und zivilisiert zu
sehen, im Gegensatz zur aggressiven und unzivilisierten Gewalt der Gegner:
„Weigert sich der Gegner, sein Vorgehen den milderen Gebräuchen des Krieges
anzupassen und hält er sich an das extreme und strikte Prinzip früherer
Zeitalter, so können wir das Gleiche tun; doch wenn er diese extremen Rechte
überschreitet und in seinem Vorgehen barbarisch und grausam wird, so können
wir im Allgemeinen dem nicht folgen und uns an seinen Untertanen dadurch
revanchieren, dass wir sie genauso behandeln.“ (Halleck 1864: 108)
Zivilisiert zu bleiben bedeutete, die Wilden nicht nachzuahmen, indem man
nach der Lehre Vitorias an den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit festhielt.
Halleck zitierte aus Liebers Instructions for the Government of the Armies
of the United States in the Field die Bestimmung: „Ungerechte oder unachtsame
Vergeltung führt dazu, dass sich die Kriegsparteien zunehmend von
den mildernden Regeln der regulären Kriegführung entfernen und lässt sie
sich mit schnellen Schritten an die mörderische Kriegführung der Wilden
annähern“ (ebd.). Zivilisierte Kriegführung war eingegrenzt.
Und doch gab es wie bei Vitoria und seinen Nachfolgern Ausnahmen zu
dieser abmildernden Regel, nach der die Unschuldigen geschont werden
sollten. Dies war die Regel der kollektiven Verantwortlichkeit und der kollektiven
Bestrafung. So meinte Halleck, dass „eine Stadt, eine Armee oder
eine ganze Gruppe manchmal für die widerrechtlichen Handlungen ihrer
Herrscher oder einzelner Mitglieder bestraft wird“. Zu diesem Schluss kam er
durch die Beobachtung, wie während des Bürgerkrieges in der Konföderation
extreme Maßnahmen massenhafte Unterstützung erhielten. „Die gesamte
Rebellenpresse befürwortete und rechtfertigte sie, und selbst die Rebellen-
Frauen haben ihr Geschlecht und ihre Mission der Barmherzigkeit auf Erden
so weit vergessen, dass sie Grausamkeiten befürworteten und anstachelten,
von denen man glaubte, nur ein barbarisches Volk im wildesten Zeitalter
werde sie begehen“ (Ebd.: 111f). Ein Widerhall dieser Argumentation fand
sich im Gaza-Krieg, als israelische Angriffe auf zivile Gebiete damit gerechtfertigt
wurden, die Bevölkerung unterstütze Hamas, die sie als menschliche
Schilde benutze; da also die Palästinenser auf barbarische Weise kämpften,
wurden sie kollektiv verantwortlich, ja schuldig (s.u.).
Wie üblich fuhr Halleck fort, selbst unter derartigen Umständen dürfe
zivilisierte Vergeltung „niemals zu wilder oder barbarischer Grausamkeit
verkommen“ (ebd.: 110). Diese Zurückhaltung unterschied den Westen
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 407
von seinen Anderen. Ob solche Selbstrechtfertigungen jedoch viel mit der
Wirklichkeit kolonialer Kriegführung zu tun hatten, ist eine Frage, die indigene
Andere zu beantworten haben. Ein Beobachter bemerkt, dass im 19.
und 20. Jahrhundert Vergeltungsmaßnahmen allzu oft dazu benutzt wurden,
„bewaffnete Interventionen und imperialistische Kriege“ zu rechtfertigen.
Sie waren im Grunde nur ein „Vorwand, um illegitimes Verhalten im Krieg
zu rechtfertigen, anstatt ein effektives Mittel, die Beachtung der völkerrechtlichen
Regeln durchzusetzen“ (Bierzanek 1987/88: 830f). Wir wissen, dass
indigene Völker westliche Vergeltungsmaßnahmen als wild und grausam
erlebten. Das zeigen die Tatsachen zahlloser Feldzüge zur Unterdrückung von
Aufständen. Zehntausende Filipinos starben durch Hunger und Krankheiten,
als die US-Streitkräfte bei ihrer Unterdrückungsaktion in Batanguas zwischen
1899 und 1902 den Landstrich verwüsteten und die Bevölkerung gewaltsam
in Loyale und Illoyale einteilten und entsprechend trennten (vgl. May 1979).
Das zwanzigste Jahrhundert
Derartiges taktisches Vorgehen war so verbreitet, weil damals ein Konsensus
herrschte, das Recht im Kriege gelte sowieso nicht für „Wilde“. Heinrich von
Treitschke (1918: 570) brachte die herrschende Meinung so zum Ausdruck:
„Aber das Völkerrecht wird zur Phrase, wenn man dergleichen Prinzipien
[Verbot des Kampfes gegen das Privateigentum, des Anzündens eines
Dorfes aus bloßem Übermut] auch auf barbarische Völker anwenden will.
Einem Negerstamme muß man zur Strafe seine Dörfer anzünden, ohne ein
solches Exempel richtet man nichts aus.“ Die Briten hatten diese Lektion
längst auf verschiedenen Feldzügen in Afrika gelernt und wandten sie auf
weiße Buren ebenso an wie auf schwarze Afrikaner (vgl. Lieven 1999). Der
bekannte englische Rechtstheoretiker John Westlake (1828-1913) bemerkte
dementsprechend in seinem Buch International Law:
„Doch häufi g können die Übergriffe und sonstigen Ungeheuerlichkeiten, die
wilde und halbzivilisierte Stämme begehen, nur durch Strafexpeditionen unterdrückt
werden, bei denen die gesamte Bevölkerung leiden muss, weil die
Regierung nur ungenügend von ihr unterschieden ist. Alle zivilisierten Staaten,
die in Kontakt mit der äußeren Welt stehen, sind zu ihrem großen Leidwesen
in ihren Grenzkriegen mit solchen Expeditionen vertraut, und das Prinzip, dass
es die einzig legitime Handlungsweise sei, die militärischen Kräfte des Feindes
zu schwächen, kann auf sie keinerlei Anwendung fi nden.“ (Westlake 1907: 55)
Er fügte zwar hinzu, dass „kein humaner Offi zier ein Dorf niederbrennen
wird, wenn er irgendeine Möglichkeit zu einem ausreichenden Schlag
hat, den allein die kämpfenden Männer zu spüren bekommen“, doch er
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bezweifelte zugleich nicht, dass die „Wilden“ grundsätzlich eben aufgebracht
und zornig seien, ohne zu fragen warum. Zu diesem Zeitpunkt hatten die
westlichen ebenso wie einige asiatische und afrikanische Staaten die Haager
Konventionen unterzeichnet.7 Darin war auch die Besatzung rechtlich
geregelt (Art. 42-56 der Konvention von 1907), doch Westlake ging es
darum, dass Art. 25, der den „Angriff auf nicht verteidigte Städte, Dörfer,
Ansiedlungen oder Gebäude oder deren Bombardement“ verbietet, nicht
auf Fälle in den Kolonien anwendbar sei, weil „der Haager Kodex sich nur
auf den Krieg zwischen zivilisierten Staaten bezieht“ (Westlake 1907: 76).
Die Ausübung von Terror gegen nicht-zivilisierte Menschen war legal und
gerecht. In dieser Hinsicht erschienen die britischen und amerikanischen
Bedenken gegenüber dem Insistieren von preußisch-deutscher Seite, dass die
Zwänge des Krieges jede moralische Rücksicht überspielten – Kriegsraison
geht vor Kriegsmanier8 – ziemlich schwach. Erkannten die hohen deutschen
Militärs die Doktrin der Verhältnismäßigkeit nicht an, so unterstrichen sie
lediglich die zentrale Bedeutung militärischer Notwendigkeit, der ihre angelsächsischen
Gegenüber letztlich ebenfalls zustimmten.9
Westlakes Zeitgenosse Lassa Oppenheim (1858-1919), ein deutscher Jurist,
der während der letzten Jahre seiner Karriere in England lehrte, schenkte
den Umständen der Landnahme größere Aufmerksamkeit ( Oppenheim
1912). Er schrieb das Buch kurz vor der Haager Konvention von 1907 und
bestimmte aufschlussreicherweise „Besatzung“ (occupation) nicht als Kategorie
des Kriegsrechtes, sondern als Synonym für Kolonisierung. Land,
das sich nicht unter einem Souverän befand, stand der Besitzergreifung (occupation)
durch eine andere Macht offen. Diese Besitzergreifung bedeutete
daher keine „Unterwerfung“ (subjugation) – worunter er Eroberung und
Annexion verstand –, sondern stand der „Abtretung“ (cession) von Land
nahe, das man von „einem auf dem Land lebenden Eingeborenenstamm“
nahm. (Oppenheim 1912: 296). Da sich das Völkerrecht lediglich auf den
zwischenstaatlichen Verkehr bezog, war es auf „Eingeborenenstämme“
nicht anwendbar. Dementsprechend waren Besitzergreifung und Abtretung
für Oppenheim und seine Zeitgenossen im Grunde das Gleiche; Eingeborenenhäuptlinge
waren keine Souveräne im westlichen Sinne, noch waren die
„Eingeborenen“ demzufolge Völker. Sie waren „Stammesgemeinschaften“
und daher nicht Mitglieder der „Völkerfamilie“. Diese Argumentationslinie
sollte Jahrzehnte später im Hinblick auf den Besatzungsstatus der Westbank
wieder aufl eben.
Weil die Beziehungen zwischen Staaten und derartigen Gemeinschaften
keine zwischenstaatlichen Beziehungen sein konnten, verwies Oppenheim
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 409
auf eine Reihe von Winkelzügen, mit denen die Großmächte ihrer gegeneinander
verlaufenden Kolonialexpansion Geltung verschafften:
„Der zunehmende Wunsch zum Erwerb gewaltiger Territorien durch Staaten,
die nicht in der Lage sind, diese Territorien sogleich effektiv zu besetzen, hat
während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass Vereinbarungen
mit den Häuptlingen der Eingeborenen geschlossen wurden, die nicht
besetzte Territorien bewohnten. Dadurch stellen sich diese Häuptlinge unter das
‘Protektorat’ von Staaten, die Mitglieder der Völkerfamilie sind.“ (Ebd.: 296)
Er setzte „Protektorate“ in Anführungszeichen, weil diese Gebiete nicht den
erforderlichen Status besaßen. Diese Arrangements stellten daher „nichts
anderes dar als Schritte, um andere Mächte von der Besetzung der fraglichen
Territorien auszuschließen“ (ebd.: 297). Es handelte sich also um die
Vorbereitung künftiger Besitzergreifung.
Oppenheim schrieb vor dem Ersten Weltkrieg und sorgte sich nicht darum,
dass das Völkerrecht westlich zentriert war; dagegen zog die Selbstbestimmungs-
Rhetorik von Woodrow Wilson im Vorfeld der Friedenskonferenz
von Versailles 1919 viele kolonisierte Völker in die internationale Sphäre.
Auch wenn die Kritik an westlichem Imperialismus und Kolonialherrschaft
im 19. Jahrhundert, oft unter Bezug auf Vitoria und Las Casas, sehr verbreitet
war (vgl. Fitzmaurice 2008), stellten nun nationalistische Intellektuelle aus
dem Fernen und Mittleren Osten die koloniale Ordnung entschieden in Frage
(vgl. Manela 2007). Die Großmächte ließen diese Hoffnungen in Versailles
am Ende scheitern, weil sie entschlossen waren, ihre eigenen Kolonial reiche
zu bewahren und das deutsche aufzuteilen. Sie hielten damit implizit an
der Teilung der Welt in zivilisierte und unzivilisierte Komponenten fest,
in denen das Recht im Kriege in unterschiedlicher Weise gelten sollte.
So griffen die Briten bei der Befriedung ihres Mandatsgebiets im Irak zu
Luftbombardements arabischer Dörfer, obwohl dies die Haager Konvention
ebenso verletzte wie das britische Manual of Military Law 10
Die Bombardierung von Damaskus durch die französische Armee im
Oktober 1925 im Zuge der Befriedung des Mandatsgebietes Syrien löste
eine wichtige Kontroverse im American Journal of International Law über
die Rechtmäßigkeit der Terrorisierung von Zivilbevölkerung aus. Einer der
Herausgeber, der amerikanische Professor für internationale Beziehungen
Quincy Wright (1890-1970), kritisierte die französische Aktion aus einer
Reihe von Gründen. Seine gut gemeinten Argumente hielten sich im Rahmen
der völkerrechtlichen Tradition und zeigten die Grenzen auf, die einer
Verteidigung indigener Rechte hier gesetzt waren. Die Umstände waren
folgende: Nachdem sie Aufständische exekutiert und benachbarte Dörfer
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niedergebrannt hatten, verschanzten sich die französischen Truppen auf der
Zitadelle im Zentrum von Damaskus und beschossen zwei Tage lang die
Stadt von innen, nachdem sie dort von Aufständischen angegriffen worden
waren. Sie zerstörten acht Stadtviertel und töteten zwischen 500 und 1000
Einwohner, einschließlich Frauen und Kindern. War dies im Rahmen geltenden
Rechts zulässig? Die Franzosen erklärten, das Kriegsrecht erstrecke
sich nicht auf Banditen; das Mandat betraue sie mit der Aufrechterhaltung
von Recht und Ordnung, und daher sei ihr Vorgehen eine ausschließlich
innere Angelegenheit, die das Völkerrecht nicht betreffe.
Ohne darauf einzugehen, dass das Bombardement weit über eine Polizeiaktion
hinausging, wies Wright darauf hin, der Aufstand habe politische
Ziele verfolgt und sei kein kriminelles Unternehmen, selbst wenn die
Aufständischen durchaus gegen eine gesetzmäßig eingesetzte indigene
Regierung revoltierten, die mit den Franzosen kooperierte. Wright gestand
unter Berufung auf Oppenheim zu, dass das Völkerrecht üblicherweise
zwischen Christen und Nicht-Christen, Abendland und Nicht-Abendland,
Zivilisierten und Unzivilisierten unterscheide; deshalb sei die Eroberung
Algeriens durch Frankreich 1830 rechtlich keine Eroberung, sondern ein
Akt der Disziplinierung gewesen. Ebenso gehörte das Recht auf Vergeltung
weiter zum rechtlichen Inventar. Was aber, wenn solche Völker zu erkennen
gaben, dass sie das Völkerrecht anerkannten? Sie könnten darunter fallen,
zumal die Türkei als früherer Souverän Syriens die Haager Konvention
unterschrieben hatte (Wright 1926: 265). Nun wissen wir, dass die Haager
Konvention die Beschießung nicht verteidigter Städte verbot, aber traf sie
hier zu? Die kollektive Bestrafung der Damaszener für die Handlungen der
Aufständischen ließ sich als Vergeltung rechtfertigen, obwohl die Bombardierung
als unverhältnismäßig erschien. Das war alles.
Wright meinte praktisch, die Franzosen hätten auf eine „Politik des Terrorismus“
zurückgegriffen, weil sie fürchteten, aus Damaskus vertrieben
zu werden und weil ihre Mannschaftsstärke über die gesamte Mandatszeit
hinweg zu niedrig war. Im Endeffekt glaubte er, das Kriegsrecht sei anwendbar,
soweit sich die syrischen Aufständischen als reguläre Soldaten
konstituierten und die Haager Konventionen befolgten. Wie bei Vattel bedeutete
die gegenüber indigenem Widerstand wohlwollende Auslegung des
Völkerrechtes, dass das Verbot ziviler Beteiligung – welches die „wilde“
oder „altertümliche“ Kriegführung kennzeichnete – die Aufständischen
zwang, der Okkupationsarmee im offenen Kampf gegenüberzutreten, was
mit Sicherheit ihre vollständige Niederlage bedeutete.
Der Hauptmann der US-Armee Elbridge Colby (1891-1982) antwortete
Wright mit der Offenheit eines mit Operationen im Feld vertrauten Offi ziers.
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 411
Er betonte, die Unterscheidung zwischen zivilisierter und unzivilisierter
Kriegführung sei legitim. Reguläre Befehlshaber „müssen ihre Probleme
auf völlig andere Weise angehen, als wenn sie sich mit westlichen Völkern
auseinandersetzen“ (Colby 1927; 284). Er verwies darauf, dass das Völkerrecht,
das auf christlichen Vorstellungen der Ritterlichkeit basiere und
von Denkern wie Grotius und Vattel überliefert worden sei, diesen Grundtatbestand
zum Ausdruck bringe. Wie Autoren des 16. Jahrhunderts insistierte
Colby, Wilde machten nicht die moderne Unterscheidung zwischen
Kombattanten und Nicht-Kombattanten, weil hier die gesamte Gesellschaft
kämpfe. „Ganze Stämme ziehen ins Feld“. Die „allgegenwärtige Brutalität
der rothäutigen Kämpfer“ belege ihre Unfähigkeit, diese zivilisierten Unterscheidungen
zu beachten. „Bei ihnen kann man kaum an Völkerrecht
denken.“11 Colby zitierte Vitoria und verteidigte General Kitcheners Angriffe
auf burische Siedlungen und britische Luftbombardements in Afghanistan.
Wie immer wurde all dies als Selbstverteidigung dargestellt, auch wenn es
sich eindeutig um Aggression handelte. Zu den nordamerikanischen „Indianerkriegen“
bemerkte Colby, dass „die einfachen Soldaten der Vereinigten
Staaten die Grenzen Amerikas verteidigt und nach Westen vorgeschoben
haben“ (ebd.: 285). Er verband so den Anspruch auf weiße Expansion mit
einer ausdrücklich defensiven Haltung, wie es seit der Antike für das westliche
Rechtsdenken typisch war. Dass die Indianer legitimerweise ihr Land
verteidigten, war begriffl icher Unsinn, weil sie, wie Oppenheim gezeigt
hatte, nicht seine souveränen Eigentümer, sondern nur Einwohner waren.
Im Grunde, so fuhr Colby fort, war das normale Recht auf Vergeltung bedeutungslos,
weil die Eingeborenen dies nicht als Aufforderung verstünden,
sich nach dem Gesetz zu richten. Daher sei ein „strenges und anhaltendes
System der Vergeltung“ am Platz; es konnte auch kaum überraschen, dass ein
hoher kanadischer Politiker mit einem „Ausrottungskrieg“ gegen Indianer
drohte, sollten sie Siedler angreifen (ebd.: 284). Der Imperativ forderte, das
eigene Volk zu schützen, koste es was es wolle.
„Der wirkliche Kern der Sache ist, dass Verwüstung und Vernichtung die
Hauptmethode der Kriegführung sind, die wilde Stämme kennen. Übertriebene
humanitäre Vorstellungen sollten nicht der Härte gegen diejenigen entgegenstehen,
die harte scharfe Methoden einsetzen, denn ein Befehlshaber, der allzu
freundlich zu seinen Feinden ist, ist einfach unfreundlich zu seinen eigenen
Leuten.“ (Ebd.: 285)
Selbst die Haager Konvention schließe unter zivilisierten Mächten nicht die
„elastische Doktrin der militärischen Notwendigkeit“ aus, und seiner Meinung
nach bestand die „uralte Regel“ fort, weil dies die einzige Methode sei,
412 A. Dirk Moses
Menschen unter Besatzung von der Revolte abzuhalten (Colby 1926: 170;
1925: 917). Wir werden sehen, dass der Streit zwischen Wright und Colby
im Gaza-Krieg über 80 Jahre später eine Neuaufl age erlebte.
Das rechtliche Verbot der Guerillakriegführung konnte selbst während
des Zweiten Weltkrieges denn auch die anglophone Diskussion lediglich
irritieren. Gewiss erkannten Autoren damals die Legitimität des Widerstandes
von Partisanen gegen die Nazi-Besatzung in Osteuropa an – „es ist völlig
gerechtfertigt, wenn sie so handeln“, wenn sie „in der Lage sind, einen
effektiven Guerillakrieg zu führen“ (Stowell 1942: 646). Aber sie bemerkten
auch, man könne nicht „erwarten“, dass die Partisanen „als friedliche
Nicht-Kombattanten behandelt werden, wenn sie Sabotageakte begehen
oder Krieg führen.“ So durfte der Besatzer – man folgte Colbys Spur –
„angemessene Mittel anwenden, um Druck auf die friedlichen Einwohner
auszuüben, damit sie sich nicht an diesen Feindseligkeiten beteiligten,
oder sie zu Anstrengungen zu veranlassen, diese zu verhindern. Aber was
genau angemessen ist, wird dadurch bestimmt, was wirklich effi zient ist.“12
Unter Berufung auf Halleck verteidigte Ellery Stowell sogar die kollektive
Bestrafung von Zivilisten:
„Doch wenn es nicht möglich ist, diejenigen zu ergreifen, die diese Taten
begangen haben, entspricht es den militärischen Zwängen und dem Gewohnheitsrecht,
der gesamten Gemeinschaft, in der diese Dinge geschehen sind, das
aufzuerlegen, was man als repressive Vergeltung bezeichnet. Wie im Fall anderer
Vergeltungsakte werden dadurch Unschuldige bestraft, doch der Krieg selbst
beruht auf dem Prinzip der kollektiven Verantwortlichkeit.“ (Stowell 1942: 650)
Die Nazis, argumentierte er weiter, hatten die Regeln der Verhältnismäßigkeit
verletzt – Hallecks Rat, nicht in Barbarei zurückzufallen – und so „Hekatombe
auf Hekatombe unschuldiger Vergeltungsopfer“ aufeinandergetürmt
(ebd.). In der Tat beschränkten die Nazis das Kriegsrecht auf diejenigen, die
sie dem zivilisierten Abendland zurechneten, und nahmen die slawischen
Völker und natürlich die Juden davon aus. In dem berüchtigten Kommissarbefehl,
der ausgegeben wurde, als sie 1941 die „Operation Barbarossa“
begannen, ging es darum, dass das Völkerrecht sich nicht auf die sowjetischen
Soldaten erstrecke, weil sie in den Augen der Nazis barbarisch in dem
von Colby formulierten Sinne seien (vgl. Streim 1997). In ihrer Paranoia
steigerten die Nazis den Sicherheitsimperativ der Selbsterhaltung bis zu
seiner äußersten logischen, genozidalen Konsequenz.
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 413
Selbstbestimmung, nationale Befreiung und Völkerrecht
Teilweise als Konsequenz aus diesen Exzessen versuchte man nach dem
Zweiten Weltkrieg, im Völkerrecht dessen Verletzung im Namen der
Selbsterhaltung eher als „Rechtfertigung“ denn als „Recht“ zu behandeln.
So erkannte die Genfer Konvention von 1949 Zivilisten größere Rechte zu
als in der Vergangenheit. Doch die bedeutsamste Veränderung im Bereich
der Besatzung war das entgegengesetzte Prinzip der Selbstbestimmung, die
Losung der nationalen Befreiungsbewegungen.
Mit dem Beitritt neuer Staaten zu den UN entwickelte sich in der Generalversammlung
eine Mehrheit, die Resolutionen gegen Rassismus, Kolonialismus
(wobei nach 1967 Israel hervorgehoben wurde) und Apartheid
(gegen Südafrika und Rhodesien) verabschiedete. Indem sie die Selbstbestimmung
zu einer Priorität der UN machte – immerhin wird sie in Art. 1
und 55 der UN-Charta erwähnt –, versuchte diese Bewegung, Bürgerkriege
oder Sezessionskriege zu internationalen Angelegenheiten zu machen. Dadurch
wurden die nationalen Befreiungsbewegungen formal mit dem Status
kriegführender Parteien ausgestattet. In einer Reihe von Resolutionen, Pakten
und Deklarationen ging die Generalversammlung in den 1960er und 1970er
Jahren sogar so weit zu erklären, dass es den Kolonialmächten verboten
sei, „gewaltsame Maßnahmen“ zur Verhinderung der Selbstbestimmung zu
ergreifen und dass ferner Völker unter fremder Herrschaft „jedes ihnen zur
Verfügung stehende Mittel“ einsetzen könnten „um für sich dieses Recht [auf
Selbstbestimmung] wiederzuerlangen.“13 Für die Blockfreien-Bewegung
war Kolonialherrschaft gleichbedeutend mit permanenter Aggression, die
legitim mittels gewaltsamer Selbstverteidigung abgewehrt werden durfte,
obwohl die Freiheitskämpfer auch das Kriegsrecht achten und keine Zivilisten
terrorisieren sollten (vgl. Abi-Saab 1972: 100, 111). Diese Strategie war
in den 1970er Jahren, als viele Befreiungsbewegungen Beobachterstatus bei
den UN erhielten, recht erfolgreich (vgl. Detter de Lupis 2000). Schließlich
verliehen auch die Art. 43 und 44 der Protokolle zur Genfer Konvention von
1977 Guerilla-Streitkräften (auch wenn sie nicht so genannt wurden) den
Kombattanten-Status, so weit sie unter einem zentralen Kommando standen,
Waffen trugen und offen kämpften, so dass sie sich von Zivilisten klar
unterschieden – wie Rechtsdenker dies jahrhundertelang gefordert hatten.14
Wie zu erwarten, wurden diese Überlegungen im westlichen Bündnis nicht
freundlich aufgenommen. Hier billigte man dem bewaffneten Widerstand
überhaupt keine Legitimität zu (vgl. Wilson 1990: 133). Der prominente
israelische Gelehrte Yoram Dinstein leistete Pionierarbeit, um der traditionellen
Theorie der Besatzung im Krieg gegenüber der Vorstellung, diese sei
414 A. Dirk Moses
illegal und gewaltsamer Widerstand legal, neue Geltung zu verschaffen.15
Ausgehend vom Fallbeispiel der israelischen Besatzung auf der Westbank –
obwohl Israel die Geltung der Genfer Konvention hier nicht anerkennt und
erklärt, sich nur freiwillig der Haager Konvention zu unterwerfen – meint
er, die menschenrechtlichen Maßnahmen zum Schutz der palästinensischen
Bevölkerung seien nicht mit den Rechten des Besatzers vereinbar und sogar
„irreführend“, weil sie letztlich durch die Sicherheitsanliegen wenigstens
teilweise unterlaufen würden (Dinstein 2009: 286).
Sein Argument, dass Sicherheits-Imperative Gruppen- und Menschenrechte
der Palästinenser aushebeln können, trifft zu. Es geht mir in diesem Beitrag
um den Nachweis, dass diese Gewichtung das Wesen des Völkerrechts ausmacht.
Dinstein zeigt ebenfalls zutreffend, wie die Haager Konvention den
Besatzer ermächtigt, im besetzten Territorium im Interesse effektiver Verwaltung
und Entwicklung einzugreifen (Art. 43). Nun ist es der springende Punkt
der Besatzung als Rechtskategorie, dass es sich um eine vorübergehende
Situation handelt, die bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages anhält
– zumindest haben die Delegierten bei den Haager Konventionen sich das
so vorgestellt. Besatzungen sollten nicht zu Annexionen werden, weil das
Völkerrecht den Erwerb von Souveränität durch Eroberung nicht anerkennt.
Was aber, wenn kein solcher Vertrag ausgehandelt und die Besatzung zum
Dauerzustand, zu etwas wird, was der Politikwissenschaftler Adam Roberts
(1990) „anhaltende Militärbesatzung“ nennt? Unter solchen Umständen, so
fährt Dinstein fort, sollte die Annexion überlegt werden:
„Das Völkerrecht darf nicht von der Wirklichkeit abgekoppelt werden. Wenn
nach einem Krieg eine Annexion über mehrere Jahrzehnte hinweg klar gefestigt
ist, so mag die Schlussfolgerung unausweichlich werden, dass neue Rechte
(die de iure gelten) sich herauskristallisiert haben, obwohl sie sich aus einer
Verletzung des Völkerrechtes in ferner Vergangenheit herleiten. Selbst wenn
der anfängliche Akt der Annexion ungültig ist, so wird die anhaltende (und
unangefochtene) Ausübung der Souveränität am Ende unabhängig von dem
ursprünglich einmal fehlerhaften Rechtstitel nun bindende Rechte schaffen.
Es kommt der Punkt, wo das System des Völkerrechtes vor den Fakten ‘kapitulieren’
muss.“ (2005: 171)
Die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes in der Westbank, das die
Besatzung – ebenso wie, wenn auch in unterschiedlicher Form, die jordanische
Kontrolle bis 1967 – immer bekämpft hat, spielt in diesem Szenario offenkundig
keine Rolle. Ein Grund dafür besteht darin, dass Israel im Unterschied
zu Gaza und den Golanhöhen auf der Westbank keinen vorherigen Souverän
anerkennt, weil Jordanien nach 1948 nicht der legale Besitzer war. Und Israel
glaubte auch nicht, die Einwohner der Westbank besäßen den Status eines
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 415
Volkes und könnten demnach Selbstbestimmung einfordern. Dies ist ein Erbe
der Argumentation Oppenheims über die Stammesvölker, die im Völkerrecht
nicht zählen. Dann hieß und heißt es, Israel solle die 1967 eroberten Territorien
aus Sicherheitsgründen behalten dürfen – „um sicherzustellen, dass solches
arabisches Territorium nicht erneut zu Aggressionszwecken gegen Israel
genutzt wird“ – wie Vitoria Jahrhunderte zuvor argumentiert hatte (Schwebel
1970: 347; s. allgemein Mallison & Mallison 1986).
Das Ergebnis der Debatte ist letztlich, dass die israelische Besatzung der
Westbank nur so lange von Dauer sein kann, wie Israel keinen Friedensvertrag
mit seinen Nachbarn unterzeichnet, sowie ferner, dass es unter dem Vorwand
effektiver Verwaltung und vor allem der Sicherheit dieses Territorium
praktisch nach Belieben entwickeln kann – ungeachtet gewisser Beschränkungen
nach den Haager und Genfer Konventionen (Art. 49, 53 und 55).
Unter diesen Umständen ist die Besatzung nicht nur lang andauernd, sondern
„transformativ“, zumal dann, wenn es zur Besiedelung des Territoriums im
großen Stil kommt (Roberts 2006). Von Eyal Benvenisti stammt der scharfsinnige
Hinweis, dass das Völkerrecht zwar lang anhaltende Besatzungen
nicht als illegal betrachte, doch solle die Weigerung des Besatzers, ehrlich zu
einer friedlichen Lösung zu kommen, sie dazu machen, weil eine derartige
Obstruktion „als regelrechte Annexion“ des Territo riums zu betrachten sei –
und Annexion bleibt illegal. Auch er meint jedoch, Sicherheitserwägungen
seien ein legitimer Grund dafür, dass Besatzer ein Territorium behalten.16
In diesem Fall wird die Besatzung andauern, und Dinsteins Position wird
sich durchsetzen.
Schluss: Gaza, Widerstand und Vergeltung
Stellen wir dem orthodoxen Sicherheits-Paradigma eine Konzeption gegenüber,
die ein palästinensisches Recht oder doch ein Streben nach Selbstbestimmung
anerkennt. Darin würde zur Kenntnis genommen, dass genau
die Dauerhaftigkeit der Besatzung den Widerstand erst schafft, der dann
den Sicherheits-Imperativ auf den Plan ruft (vgl. Bornstein 2008). Welches
Recht also kommt dem Widerstand zu? Antworten, die über die begriffl ichen
Beschränkungen des völkerrechtlichen und moralphilosophischen Standpunkts
– vor allem die (verständliche) Hauptsorge um die zivilen Opfer
– hinausgehen und sich mit den Modalitäten der Besatzung auseinandersetzen,
müssen den politischen Kontext berücksichtigen, in dem gewaltsamer
Widerstand gegen Besatzung stattfi ndet, zumal gegen eine anhaltende und
transformative Besatzung. Das Völkerrecht berücksichtigt nicht ernsthaft
die Perspektive derer, die unter Besatzung leben. Wie erleben sie über
416 A. Dirk Moses
Jahrzehnte diese Verhältnisse? Besatzungen, die durch scharfe und strikte
Sicherheitsmaßnahmen gekennzeichnet sind, erscheinen in diesem Licht:
„Die kollektive Bestrafung von Menschen, die den Zwängen einer militärischen
Besatzung mit territorialen Zielsetzungen unterliegen, ist eindeutig ebenso
sehr eine Form des Terrorismus wie der Einsatz von Selbstmordattentätern,
die tödliche Kampfmittel an Orten zur Explosion bringen, wo sich zahlreiche
unschuldige Zivilisten befi nden.“ (Falk 2002: 21)
Gewiss wird diese Gleichung vielen als Donquichotterie und geradezu als
frevelhaft erscheinen, aber Richard Falk, von dem sie stammt, bringt exakt
die Überlegungen eines Großteils der Palästinenser zum Ausdruck. Sie fühlen
sich durch die Übergriffe in besonderem Maße verletzt vor dem Hintergrund
ihrer Erwartung auf Selbstbestimmung, die sie in unterschiedlicher Form das
gesamte 20. Jahrhundert hindurch aufrecht erhalten haben. In dessen Verlauf
wurde dieses Recht nicht nur verweigert, sondern die Existenz einer palästinensischen
Nationalität wurde häufi g ebenfalls bestritten. Im Grunde bedeutet
die Besatzung eine Unterbrechung der Entkolonisierung, die mit dem
Ende des britischen Mandates eingeleitet wurde. Das Recht der Palästinenser
auf Rückkehr, das durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates verbrieft
ist, wird ebenso als ein Recht betrachtet. Die anhaltende und transformative
Besatzung, die effektiv zur Annexion eines Großteils des palästinensischen
Gebietes führt, indem es mit jüdischen Siedlern aus der ganzen Welt bevölkert
wird, hat die Palästinenser in ein „tragisches Dilemma“ gezwungen:
entweder vor der Annexion zu kapitulieren, weil gewaltloser Widerstand den
Siedlungsbau nicht stoppen kann, oder gewaltsam Widerstand zu leisten, also
Terrorismus zu üben (ebd.: 29, 39). Dieses Dilemma, das in der Analyse von
Falk auf Palästina beschränkt ist, lässt sich auf die Beziehungen zwischen
Siedlern und Indigenen über die Jahrhunderte hinweg verallgemeinern.
Fürsprecher Israels lassen dies nicht gelten und betonen, der Terrorismus sei
die Ursache der Besatzung und nicht umgekehrt. So schreibt Alan Dershowitz,
Israel halte die Westbank besetzt, um sich zu verteidigen und bringt so Argumente
vor, mittels derer westliche Denker jahrhundertelang Expansion mit
defensiver Gewalt verknüpft haben (vgl. Dershowitz 2006). Wie Halleck
glaubt er, die Bestrafung von Kollektiven – in diesem Fall palästinensischer
Zivilisten – sei legitim, weil sie angeblich „den Mord an Zivilisten“ unterstützen,
wie er formuliert. Er befürwortet keine bewusste, gezielte Aktionen
gegen Zivilisten – das machen Terroristen – aber er empfi ehlt wirtschaftliche
Sanktionen, das Niederwalzen von Gebäuden usw. als legitime Vergeltung
(Dershowitz 2002: 174f). Israels Bombardierung von Gaza, schrieb er, war
„völlig verhältnismäßig“. Er berief sich dazu auf Selbstverteidigung, miliBesatzung,
Kolonialherrschaft und Widerstand 417
tärische Notwendigkeit und Anstrengungen zur Schonung von Zivilisten
(Dershowitz 2009). Wie Vitoria vor ihm rechtfertigt er den Tod unschuldiger
Zivilisten, wenn sie im Verlauf legitimer Vergeltung getötet werden:
„Das Gesetz muss sicherlich unschuldige Zivilisten schützen. Der erste Schritt,
der hier getan werden sollte, ist anzuerkennen, dass es ein Kriegsverbrechen
ist, wenn Terroristen sich unter Zivilisten verstecken und so die Demokratien
zu der Wahlentscheidung zwingen, ob sie den Terroristen gestatten sollen, mit
der Tötung unschuldiger Zivilisten in einer Demokratie fortzufahren oder ob
sie militärisch vorgehen sollen, was häufi g dazu führt, dass einige Zivilisten
umkommen. Alle zivilen Opfer im israelisch-palästinensischen Konfl ikt gehen
ausschließlich zu Lasten der palästinensischen Terroristen, die bewusst eine
Lage schaffen, in der Zivilisten getötet werden.“ (Dershowitz 2005)
Dershowitz sagte dies 2005. Während des Angriffs auf Gaza 2008/09
stellte Amnesty International fest, dass Hamas nicht unmittelbar Zivilisten
als menschliche Schilde benutzt hatte, obwohl es zur Kenntnis nahm, dass
Hamas-Kämpfer Raketen von zivilen Gegenden aus abschossen, bevor sie
diese verließen. (Amnesty kritisierte Israel dafür, palästinensische Zivilisten
als menschliche Schilde benutzt zu haben, indem sie als Geiseln in ihren
Häusern festgehalten wurden, die dann als Scharfschützen- und Beobachtungsstellungen
genutzt wurden).17 Gefragt, warum die Hamas-Kämpfer das
taten, berichtete eine Journalistin der New York Times in Gaza folgendes:
„In einem Interview mit CNN fragte mich der Moderator, während die Kämpfe
noch andauerten, ob die Hamas aus Wohngebieten heraus schieße. Ich gab zur
Antwort: Ja, denn ich hatte Belege dafür und war Zeugin geworden, wie eine
Rakete aus einem zivilen Gebiet abgefeuert wurde. Dann fragte der Moderator
mich, warum Hamas das tue. Ich antwortete, dass nach Aussage des hohen
Hamas-Führers Mahmoud al-Zahar Hamas keine andere Wahl habe. Die
Hamas sagt, dies sei das einzige Instrument, das ihr zur Verfügung stehe, um
Israel unter Druck zu setzen, damit es die Blockade gegen den Gaza-Streifen
beende. Hamas argumentiert, der Gaza-Streifen sei so klein (gerade einmal die
Fläche von Detroit), dass die Drohnen und die F-16-Jets die Kämpfer sogleich
töten würden, wenn sie unmittelbar an der Grenze oder vom freien Feld aus
schössen.“ (El-Khodary 2009)
Hier haben wir also die beschränkten Bedingungen legitimen Widerstandes
eines indigenen Volkes, wie sie von Vattel entwickelt wurden. Von den
1.499.369 Einwohnern von Gaza sind 1.030.638 bei UNRWA als Flüchtlinge
registriert – zwei Drittel der Bevölkerung.18 Nach Angaben der Vereinten
Nationen kamen die meisten, die „wegen des Israelisch-Arabischen Krieges
von 1948 in den Gaza-Streifen fl ohen, aus Jaffa, Städten und Dörfern südlich
von Jaffa sowie aus der Gegend von Beersheva im Negev.“19 Man könnte
418 A. Dirk Moses
Dershowitz fragen, wer nun diese Situation geschaffen hat. Er könnte antworten,
dass Palästinenser und Araber generell den UN-Teilungsplan von
1947 ablehnten und nun die Last ihrer historischen Entscheidung zu tragen
hätten. Aber was ist zuvor mit dem zionistischen Kolonisierungsprojekt?
Von Anfang an betrachteten die Zionisten ihre Anwesenheit in Palästina
als ein Recht und den palästinensisch-arabischen Widerstand dagegen als
illegitim. Sie verstanden es als Verteidigungshaltung, wenn Juden das Recht
beanspruchten, das Land zu kolonisieren und die lokale arabische Bevölkerung
demographisch zu überwältigen – obwohl die lokale Bevölkerung dies
natürlich als aggressiv und expansiv erlebte.20 Dies ist das Muster aggressiver
Selbstverteidigung, das wir seit Vitoria beobachtet haben.
Machen Leute aus Gaza nun ihr Recht geltend, in ihre Dörfer und Städte
zurückzukehren, so sehen sie sich dem von Falk beschriebenen tragischen
Dilemma gegenüber: entweder zu kapitulieren und dieses Recht aufzugeben
(weil Israel und die internationale Gemeinschaft es nicht achten werden), oder
aber gewaltsam „Widerstand“ zu leisten und dann das Völkerrecht zu brechen,
weil sie israelische Zivilisten mit Raketen terrorisieren, die von zivilen
Wohngebieten aus abgefeuert werden (obwohl sie 2008/09 keine menschlichen
Schutzschilde einsetzten). Schössen sie von offenen Feldern in Gaza aus, so
würden sie, wie al-Zahar erläuterte, durch Israels haushoch überlegene Militärmacht
dezimiert werden. Sich an das Völkerrecht zu halten, bedeutet also
die sichere Niederlage. Der Verweis auf diese altehrwürdige Bestimmung des
Völkerrechts bedeutet keine Rechtfertigung terroristischer Gewalt, sondern
vielmehr eine Erklärung, warum es überhaupt dazu kommt (vgl. Hage 2003).
Ironischerweise suchen Fürsprecher der palästinensischen Sache Israel
unter die Haager Konvention zu zwingen, weil sie glauben, dies könne die
Besatzung abmildern. Letztlich wird dadurch aber wenig erreicht, weil
Sicherheitsbedenken und andere rechtliche Winkelzüge, wie fadenscheinig
auch immer, so gut wie sämtliche Handlungen Israels rechtfertigen können
– ob gegen Gaza oder in der Westbank.21 So bestimmen etwa die Genfer
Konventionen, dass der Besatzer die Bevölkerung nicht unterdrücken darf;
aber Israel darf aus absoluter militärischer Notwendigkeit Eigentum zerstören
(Art. 23[G] und 23 der Haager Konvention). Demnach ist Israels Politik der
Bestrafung durch das Abreißen von Häusern rechtlich abgesichert.22 Und das
gilt auch für den Krieg in Gaza. Das alte Recht auf Selbsterhaltung und kollektive
Bestrafung ebenso wie auf Prävention und vorwegnehmende Selbstverteidigung
überlebt im Völkerrecht ungeachtet der Menschenrechtsrhetorik
und der Rechtsinstrumente, die diese Praxis abmildern sollen. Unter Druck
werden Nationalstaaten heute ebenso wie in der Vergangenheit auf derartige
Maßnahmen zurückgreifen (vgl. Laursen 2004).
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 419
Wenn deren Führer behaupten, sie seien dazu durch terroristischen Widerstand
des Volkes unter Besatzung gezwungen, so liefert das Völkerrecht ihnen
gleich auch die Rechtfertigung für die Besatzung selbst: Notwendigkeit und
präventive Selbstverteidigung. Und obwohl das Recht auf die Besiedelung
„unbewohnten Landes“ keine legitime Begründung für imperiale Expansion
mehr ist, sind Kultivierung und Verbesserung noch immer mächtige Faktoren,
die die westliche Vorstellungswelt beeinfl ussen. Die israelischen Siedler
können so das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung beispielsweise
in den Augen vieler Nordamerikaner aushebeln, die die Palästinenser mit
„Indianern“ und die jüdischen Siedler (von denen viele Amerikaner sind)
mit ihren eigenen Vorfahren identifi zieren, die diese unterwarfen und das
Innere des Kontinents für die weiße Besiedelung erschlossen. Nicht umsonst
beziehen sich beide Seiten in Israel/Palästina auf die „Indianer“-Analogie.
„Wir sind keine Indianer“, erklärte Arafat und wollte damit sagen, dass die
Palästinenser nicht ausgerottet und von ihrem ererbten Land vertrieben
werden könnten (Usher 2004). Er irrte sich zum Teil. Sie können wirklich
enteignet werden, und wie zuvor wird das Völkerrecht helfen, zu diesem
Ergebnis zu kommen.
Was ist nun mit den Präventivschlägen, jenem antiken Recht, das die
humanistischen Autoren der frühen Neuzeit wiederentdeckt haben? Es
handelt sich um einen aufschlussreichen Anspruch, weil er sehr genau die
Angst erfasst, die ein kleines Land oder Volk erlebt, das an eine mächtigere
Einheit angrenzt oder von ihr besetzt gehalten wird. Die Asymmetrie wird
als unerträglich erfahren. Das Losschlagen gegen eine potentielle Bedrohung,
die man in dem militärischen und/oder demographischen Ungleichgewicht
erblickt, bevor diese sich aktualisiert, wird als Recht beansprucht. Im Nahost-
Konfl ikt ist dieser Rechtsanspruch auf unterschiedliche Weise wirksam. Er
macht die verborgene Wahrheit im Anspruch der Hezbollah aus, „Widerstand“
gegen Israel zu leisten, obwohl sie 2000 Israel dazu bringen konnte,
den Libanon zu verlassen.23 Aber er begründet auch Israels Anspruch, legitim
Syrien und den Iran anzugreifen und deren Nuklearkapazität zu zerstören.
Während Hezbollah das Ungleichgewicht verändern will, möchte der israelische
Staat es aufrechterhalten, um das Land gegen jegliche Bedrohung zu
immunisieren. Die Psychologie der Angst und die Politik der Prävention
sind Modalitäten der Besatzung ebenso wie des Widerstandes gegen sie.
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand.
Das Völkerrecht und die Legitimierung von Terror*
Die Begriffe „Besatzung“ und „Kolonialherrschaft“ sind seit dem Zweiten
Weltkrieg problematisch geworden, als die Massenverbrechen des Nazi-
Imperiums ihnen weitgehend die Legitimationsgrundlage als akzeptable
geopolitische Projekte entzogen hatten. Nicht von ungefähr gab Raphael
Lemkin, der polnisch-jüdische Jurist, der den Begriff des Völkermordes
bzw. Genozids1 geprägt hat, seinem berühmten Buch den Titel Axis Rule in
Occupied Europe (1944). Die folgende Entkolonisierung der Welt und die
Gründung der Vereinten Nationen (UN) signalisierten das Ende der alten
europäischen Imperien, die durch eine neue Ordnung unabhängiger Nationalstaaten
ersetzt wurden. Besatzungen und Kolonialherrschaft schienen
einem vergangenen Zeitalter anzugehören – das wenigstens war nach dem
Zweiten Weltkrieg die Hoffnung vieler.
Trotz alledem gehört Besatzung zum festen Inventar des Völkerrechts –
vor allem der Vierten Haager Konvention von 1907 –, weil sie die Normen,
wenn auch nicht die Wirklichkeit festlegt, unter denen bewaffnete Konfl ikte
und darauf folgende Besatzungen eroberter Territorien erfolgen sollen, bis
ein Friedensvertrag über deren weiteres Schicksal entscheidet. Nach 1945
fügten Neuerungen im Völkerrecht wie die Genfer Konventionen von 1949
und das Protokoll von 1977 weitere Schutzbestimmungen für Zivilisten unter
Besatzung hinzu. Sie eliminierten aber nicht die jahrhundertealte Tradition
der Rechtswissenschaft zur Kriegführung und ihren Folgen. Besatzungen
als solche – im Gegensatz zu Annexionen – sind demnach nicht illegal. Die
Bedeutung der Entkolonisierung und der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung
seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN 1948
liegt darin, dass ausländische Besatzung nun einer besonderen kritischen
Aufmerksamkeit unterliegt. Die Rechte von Menschen unter Besatzung, die
im Ideal der Selbstbestimmung enthalten sind, werden nun gegenüber der
* Ich danke drei anonymen Gutachtern sowie Sam Moyn für Kommentare zum Entwurf
dieses Aufsatzes, Reinhart Kößler für die Übersetzung und Olaf Berg für die Einladung, in
dieser Zeitschrift zu publizieren. Dieser Text wurde vor der Veröffentlichung des Goldstone-
Berichtes über den Gaza-Krieg verfasst.
400 A. Dirk Moses
Fremdherrschaft geltend gemacht, zumal die UN-Generalversammlung in
den 1960er und 1970er Jahren Resolutionen zugunsten nationaler Befreiungsbewegungen
verabschiedet hat.
Angesichts des ambivalenten Status von Besatzung verwundert es nicht,
wenn anlässlich bestimmter Fälle Befürworter ebenso wie Kritiker sich auf
das Völkerrecht berufen. Diese Spannung ist vielleicht nirgends so offensichtlich
wie im Fall von Israel/Palästina. Der israelische Angriff auf Gaza im
Dezember 2008 und Januar 2009 warf alle wesentlichen Fragen auf: War Israel
trotz seines „Rückzuges“ 2005 noch immer die legale „Besatzungsmacht“
in Gaza? Auf welcher Rechtsgrundlage durfte es auf die Raketen der Hamas
antworten? Welches Recht auf bewaffneten oder unbewaffneten Widerstand
kommt – wenn überhaupt – den Bewohnern von Gaza (und im Grunde auch
der Westbank) zu? Bedeutete das Vorgehen Israels eine kollektive Bestrafung
und verletzte so Bestimmungen des Kriegsrechts? Unterliegt die Besatzung
der Westbank durch Israel den Haager und Genfer Konventionen, den beiden
wesentlichen Rechtsinstrumenten, die sich auf Besatzung beziehen? Und ist
die israelische Präsenz dort überhaupt eine „Besatzung“? Nach offi zieller
israelischer Lesart ist dieses Territorium „umstritten“ und nicht „besetzt“.
Das sind nur einige der Fragen, die dieser Fall aufwirft.
Wenn Befürworter der einen oder anderen Seite sich auf das Völkerrecht
berufen, um die andere zu kritisieren, so sind diese Appelle und Behauptungen
nicht so neu, wie die Kommentatoren in den Medien glauben. Sie
wurden seit den 1950er Jahren erhoben, als israelische Vergeltungsschläge
gegen jordanische Dörfer für grenzüberschreitende Angriffe palästinensischer
Guerillakämpfer wegen der hohen zivilen Opfer und des Vorwurfs
mangelnder Verhältnismäßigkeit heftige internationale Kritik auf sich zog.
Die gleichen Argumente richteten sich gegen den sogenannten „Zweiten
Libanon-Krieg“ 2006, der mit Raketenangriffen der Hezbollah auf israelische
Zivilisten begründet wurde.2
Es ist bezeichnend für den herrschenden Diskurs von Völkerrechtlern
und Moralphilosophen, dass die Besatzung in diesen Rahmen gestellt
wird. Ihr Interesse ist gewöhnlich gegenwartsfi xiert und statisch und darauf
ausgerichtet, einen mehr oder weniger festgelegten – und angeblich
neutralen – Rechtskomplex auf Einzelfälle anzuwenden.3 Eine historische
Analyse kann demgegenüber die dem internationalen System zugrunde
liegenden Prinzipien genauer in den Blick nehmen, die überhaupt erst den
Bezugsrahmen der rechtlichen, moralischen und politischen Debatte über
Besatzung erklären.
Dieser Beitrag versucht eine solche Analyse, indem er rechtswissenschaftliche
Positionen zu den verschiedenen Dimensionen der Besatzung
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 401
miteinander verknüpft: Kolonialherrschaft und Landnahme mit Kriegführung,
Selbstverteidigung und Ausnahmezustand. Es wird sich zeigen, dass
das Völkerrecht alles andere als eine neutrale Berufungsinstanz für Völker
unter Besatzung ist; vielmehr ist es Ausdruck eines expansiven, ursprünglich
europäischen Systems, das seit Jahrhunderten die Lizenz zu kolonialer
Expansion und zu terroristischer Gewalt gegen diejenigen geliefert hat, die
ihr widerstanden. Allzu leicht gerät Besatzung, ganz gleich, wie sie defi niert
ist, zur defacto-Annexion, und das Völkerrecht verleiht im Gegensatz zu
nicht-bindenden UN-Resolutionen indigenen Menschen wenig legale Anhaltspunkte,
um ihr Selbstbestimmungsrecht geltend zu machen.
Aus Platzgründen spare ich die Beziehung zwischen antikem und modernem
Naturrecht aus und konzentriere mich unter Bezug auf bestimmte
Autoren auf exemplarische Entwicklungen. Um die dem Völkerrecht zugrundeliegenden
Prinzipien deutlich herauszuarbeiten, betone ich die über 500
Jahre zu verfolgende Kontinuität bestimmter Rechtfertigungsstrategien für
staatliche Gewaltausübung und dauerhafte Besatzung unter Vernachlässigung
diskursiver Brüche und Veränderungen des historischen Kontextes. Ich beginne
mit Vitoria im 16. Jahrhundert und schließe mit einer kurzen Analyse
des jüngsten Konfl iktes in Gaza, um die legitimatorischen Verknüpfungen
von Besatzung, Sicherheit und Terror aufzuzeigen. Wenn meine Darstellung
daher unvollständig bleiben muss, so hoffe ich doch, dass diese kritische
Ideengeschichte die Schlüsselelemente einer bestimmten Tradition offen
legt – die schon durch das beständige gegenseitige Zitieren der Autoren
offenkundig ist –, mit der das westliche System staatlicher Macht sich dem
Rest der Welt aufzwingt.4 Dieser Aufsatz ist jedoch nicht als Verteidigung
indigenen Widerstandes gegen Besatzungen, Kolonialisierung und Kolonialherrschaft
gedacht. Er soll die rechtliche Seite der Konfrontation zwischen
Besatzer und Besetzten in ihrer historischen Kontinuität offen legen.
Die Ursprünge des Argumentationsmusters
Historiker des Völkerrechts beginnen ihre Darstellung gewöhnlich mit
Francisco de Vitoria (1485-1546), dem spanischen Theologen, Philosophen
und Begründer der Rechtsschule von Salamanca, dessen Schriften über Krieg
und Kolonialherrschaft als Beginn des „internationalen Denkens“ gelten
(vgl. Williams 1992; Onuf 1998; Fitzmaurice 2003). Seine Überlegungen zur
Behandlung der südamerikanischen Indianer durch die Spanier sind besonders
bedeutsam, weil sie so häufi g als Verteidigung indigener Rechte gegen
die räuberischen Europäer verstanden werden. Auch Lemkin sah Vitoria als
humanitären Helden, wie Las Casas als Fürsprecher der Schwachen gegen
402 A. Dirk Moses
die Starken, der mutig dem althergebrachten Rechtsanspruch von Nationen
entgegentrat, sich gegenseitig zu unterwerfen, auszuplündern und sogar zu
vernichten.5 Sieht man näher zu, so zeigt sich, dass Vitoria in Wirklichkeit
eine Rechtfertigung europäischer Eroberung und sogar des Terrors lieferte,
freilich in entwaffnend humanistischen Begriffen. Diese Argumentationsweise
war desto effektiver, als sie in fataler Weise Moral und Gewalt im Sinne
subjektiv verstandener Selbstverteidigung miteinander verknüpfte. Dies
verdient genauere Betrachtung, weil es sich um den Kern des europäischen
Denkens über Kolonisierung, Widerstand und die Legitimität staatlicher
Gewalt handelt (vgl. Anghie 2004: 28, 293ff).
Es stimmt zwar, dass Vitoria die Eigentumsrechte der Indianer auf naturrechtlicher
Grundlage gegen die Vertreter des christlichen Rechtes zur
Unterwerfung und Ausplünderung der Heiden geltend machte. Aber damit
sagte er nicht, die Spanier sollten dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen
waren. Das „Recht der Nationen“ postulierte auch universale Freundschaft
und Geselligkeit und daher das Recht der Spanier die indianischen Länder zu
erforschen, dort Handel zu treiben und Ressourcen zu beziehen. Er schrieb
sogar, es handele sich um „Kriegshandlungen“, wenn Indianer die Spanier
an solchen Tätigkeiten hinderten, zumal dann, wenn andere Ausländer sie
auch betrieben (Vitoria 1917: 151/386; Cavallar 2002). Spanische Vergeltungsakte
waren daher „zulässiger Selbstschutz“ gegen deren Versuch
der „Vernichtung“; die Spanier durften nun die Indianer als „ihre bösen
Feinde“ behandeln „und gegen sie alle Rechte des Krieges beanspruchen,
ihre Güter rauben, sie gefangen nehmen, ihre früheren Herren ab- und neue
einsetzen“ (Vitoria 1917: 154f/393, 395). Das entscheidende Legitimationsinstrument
ist hier die Annahme, die Spanier würden von den Indianern zu
Verteidigungsmaßnahmen gezwungen, was nur funktionieren kann, wenn
der Charakter ihrer Anwesenheit von vorneherein außer Frage bleibt. Wir
werden sehen, dass diese Blindheit im späteren europäischen Denken eine
zentrale Rolle für die Verknüpfung zwischen Besatzung, Kolonisierung und
Gewalt spielen sollte.
Diese Blindheit war eine Funktion des Glaubens an die eigene großzügige
Menschlichkeit, eine Überzeugung, die in der Unterscheidung zwischen
der grenzenlosen Gewalt der antiken und zeitgenössischen Wilden auf der
einen Seite und der christlichen Europäer auf der anderen wurzelte. Vitoria
betonte wiederholt, regelrechte Ausrottung der Kriegsgegner sei verkehrt
und berief sich dazu auf die Lehre vom gerechten Krieg von Thomas von
Aquin. Gewalt war nur gerechtfertigt in der Verteidigung, um ein Unrecht
zu korrigieren und seine Wiederholung zu verhindern. Verschiedentlich
deutete er aber auch Ausnahmen an, in denen Gewalt letztlich keine Grenzen
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 403
kannte: in Fragen der Sicherheit und militärischen Notwendigkeit. Obwohl
er daher abstritt, dass es generell zulässig sei, „unschuldige“ Angehörige des
Feindes „niederzumetzeln“, schrieb er doch auch, dass der „Fürst alles tun
darf, was nötig ist, um dem Feind Frieden und Sicherheit abzuringen; etwa
die Festung des Feindes zerstören und sogar eine solche auf dem Boden des
Feindes errichten, sollte dies notwendig sein, um einen gefährlichen Angriff
des Feindes abzuwenden“ (ebd.: 171/431). Dies bezieht sich auf feindliches
Eigentum. Was ist mit Zivilisten? Durfte ein Herrscher Maßnahmen zur
Abwendung eines künftigen Angriffs ergreifen, so durfte er in bestimmten
Fällen auch Unschuldige töten, etwa bei der Belagerung einer Stadt. „Der
Beweis dafür ist, dass anders selbst gegen die Schuldigen kein Krieg geführt
werden könnte und daher das Recht der Kriegführenden eingeschränkt
würde“ (ebd.: 179/448). Gewiss sollte die Regel der Verhältnismäßigkeit
beachtet werden, also durfte man nicht viele Unschuldige umbringen, um
wenige Schuldige zu bestrafen. Aber diese Beschränkung vertrug sich nicht
mit seinem Imperativ, „alles Nötige zu tun, um dem Feind Frieden und
Sicherheit abzuringen“ – dem Imperativ, dem militärische Befehlshaber in
der Hitze der Schlacht unweigerlich folgen. Daher war es zwar unzulässig,
Unschuldige unter den Feinden abzuschlachten, doch war es, „wenn der
Krieg sich auf unbestimmte Zeit hinzieht, ... rechtmäßig, alle Untertanen
des Feindes völlig auszurauben, seien sie nun schuldig oder unschuldig,
denn mit ihren Ressourcen unterhält der Feind einen ungerechten Krieg
und andererseits entzieht ihm die Ausplünderung seiner Bürger Kräfte“
(ebd.: 180/451). Am Ende hebelten Selbsterhaltung und Sicherheit – also
Staatsraison – die ethische Beschränkung der Gewalt aus.
Heute stellt die Ideengeschichte den Scholastiker Vitoria mit seinem
theologischen Rückgriff auf christliche Autoritäten humanistischen Theoretikern
gegenüber, die sich auf heidnische Klassiker beriefen und den
Krieg im Dienste der Republik verherrlichten (vgl. Tuck 1999). Diese Unterscheidung
kann auch übertrieben werden, bedenkt man Vitorias Beharren
auf Selbsterhaltung.
Der Sprung von Vitoria zu dem niederländischen Juristen Hugo Grotius
(1583-1645), der oft als „Vater des Völkerrechtes“ bezeichnet wird, war in
dieser Hinsicht gar nicht so groß. Die charakteristische Argumentation war
und ist bis heute, das Töten zu begrenzen, aber dann die nahezu grenzenlose
Gewaltanwendung in extremen Notsituationen zuzulassen (vgl. Rodick 1928;
Dunbar 1952; Brownlie 1963; Boed 2000; Gross & Ni Aolain 2001). Grotius
und seine Nachfolger – Hobbes, Montesquieu und selbst Kant – griffen
noch nachdrücklicher eine andere antike Tradition auf, nämlich das Recht
auf durch Angst begründete Präventivschläge. Unter Berufung auf Cicero
404 A. Dirk Moses
argumentierten sie, eine entschiedene Machtasymmetrie mit dem Feind
und nicht nur ein unmittelbar bevorstehender Angriff dürfe rechtmäßig mit
Gewalt beantwortet werden. Potentiellen Gefahren galt es Widerstand zu
leisten. Umgekehrt nahm man an, dass der Besitz des „Ruhms“ einem Nachbarn
Furcht einfl ößen und so gegen seinen Angriff immunisieren werde (vgl.
Tuck 1999: 19f, 126ff, 186, 215ff, 228). Wir werden auf die Implikationen
der Prävention am Ende dieses Aufsatzes zurückkommen.
Konnte Vitoria sich keinen legitimen Widerstand der Indianer gegen
die europäischen Eindringlinge vorstellen, wie stand es dann mit innereuropäischen
Kriegen? Schon im 18. Jahrhundert – also vor dem „Zeitalter
des Nationalismus“ – hatten Denker begonnen, sich mit der Beteiligung
des Volkes an Feindseligkeiten zu befassen. So versuchte der Schweizer
Diplomat und Denker Emer de Vattel (1714-1767), die Grausamkeit des
Krieges dadurch einzuschränken, dass er die legitime Teilnahme daran strikt
auf die unter Befehl handelnden Soldaten begrenzte. Die Einbeziehung der
gesamten Bevölkerung in die Militäraktionen bedeutete den Rückfall in eine
barbarische Vergangenheit: „Es wäre schwierig, ihn anders als durch die
völlige Vernichtung einer der Parteien zu beenden; das belegt das Beispiel
der Kriege des Altertums“, schrieb er (1835: 248/1959: 488). Und doch
meinte er, es sei unrealistisch, von Zivilisten zu erwarten, nicht spontan
ihr Territorium zu verteidigen, obwohl sie von der einfallenden Armee
rechtmäßig als Banditen behandelt und exekutiert werden konnten. Diese
Spannung zwischen einem moralischen Recht auf Widerstand und einem
legalen Recht, ihn zu unterdrücken, bestimmt noch heute das Völkerrecht.
Vattel bezeichnete mit bewundernswürdiger Offenheit, was Unterdrückung
bedeutete, nämlich Terror:
„Der Feind bedient sich nur des ihm zustehenden Rechts, des Rechts der
Waffen, das ihm zugesteht, in gewissem Maß Terror einzusetzen, um die
Untertanen des von ihm bekriegten Souveräns an leichten Entschlüssen zu
kühnen Handstreichen zu hindern, deren Erfolg für ihn verhängnisvoll werden
könnte.“ (Vattel 1835: 250/1959: 489)
Und mit „dem Feind“ meinte er die Gesamtheit der ausländischen Bürgerschaft,
weil der Krieg auf den Prinzipien der Kollektivmitgliedschaft beruhe:
„Denn von dem Augenblick an, zu dem eine Nation gegen eine andere die
Waffen ergreift, erklärt sie sich zum Feind aller Einzelpersonen, die diese
ausmachen und gibt ihnen das Recht, sie selbst als solche zu behandeln“
(1835: 248/1959: 488). Das ist die Überlegung, die im Ersten Weltkrieg
hinter dem britischen Kriegsziel stand, „Deutschland auszuhungern“ – die
feindliche Regierung unter Druck zu setzen, indem ihre Zivilbevölkerung
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 405
zur Zielscheibe wurde – und scheint auch heute die Politik Israels in Gaza
zu bestimmen (vgl. Vincent 1985; Amnesty International 2008).
Der deutsch-amerikanische Jurist und Autor einfl ussreicher Militär-
Kodizes für die Unions-Streitkräfte im Amerikanischen Bürgerkrieg Francis
Lieber (1800-1872) folgte geradewegs den Vorgaben Vattels. Einerseits galten
irreguläre Truppen, die weiterkämpften, nachdem ihre Armee kapituliert
hatte, als Kriminelle und konnten entsprechend behandelt werden, weil sie
die Kriegführung brutaler machten:
„... dieser Erneuerer des Krieges auf besetztem Gebiet ist immer mit der
äußersten Strenge des Kriegsrechtes behandelt worden. Der Kriegs-Rebell setzt
die Besatzungsarmee den größten Gefahren aus und greift vor allem störend
in die Milderung der Härte des Krieges ein, die zu den edelsten Zielsetzungen
des modernen Kriegsrechtes gehört.“ (Lieber 1880: 284f)
Wie immer lautete die Begründung, dass „das Volk eher ein passiver Untergrund
des Staates sei als ein wesentlicher Teil davon“ (ebd.: 285). Wie
aber zeitgenössische Gelehrte wie Karma Nabulsi (1999) gezeigt haben,
bestimmten nationale Befreiungskriege mit brutaler Guerilla-Kriegsführung
und Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency) das ganze 19. Jahrhundert
hindurch das Kriegsgeschehen in Europa. Da er in den deutschen und griechischen
Befreiungskriegen gekämpft hatte, war Lieber sich dieser Realität
sehr wohl bewusst, und zweifellos ist dies der Grund für seine Anstrengungen,
Zivilisten aus dem Anliegen zur Einschränkung militärischer Gewalt
auszuklammern. Doch im Zeitalter der levée en masse war er sich auch im
Klaren, dass sich ein Volksaufstand nicht durch das Dekret eines Buchautors
ausschließen ließ. Daher vertrat er die Auffassung, ein solcher Aufstand sei
so weit zulässig und seine Teilnehmer wie Soldaten und nicht als „Kriegs-
Rebellen“ zu behandeln, wie diese in ausreichender Zahl dem Feind offen
entgegentraten; sie durften nicht als Zivilisten getarnt kämpfen. Legitime
Guerilla-Kriegführung gab es für ihn nicht (Lieber 1880: 286). Wie Vattel
unterschied er also zwischen dem moralischen Recht auf Widerstand und
dem legalen Recht, ihn zu unterdrücken. Im Ergebnis mussten indigene
Völker und Europäer unter Besatzung ihren Widerstand, sollte er legitim
sein und damit unter den Schutz des Völkerrechtes fallen, also so gestalten,
dass ihre Dezimierung unausweichlich war.6
Zwei Jahre später griff Liebers unionistischer Kollege, der Jurist und hohe
Beamte Henry Wager Halleck (1815-1872), im Rahmen seiner Überlegungen
über „Vergeltung“. auf seine Erfahrung im Amerikanischen Bürgerkrieg
zurück. Wie andere Autoren erklärte auch er, ein Staat dürfe vorübergehend
die Gesetze der Nationen verletzen, um einen Gegner zu zwingen, von einer
406 A. Dirk Moses
Handlungsweise abzulassen, die diese Gesetze verletze. Wegen ihrer kurzen
Zeitdauer und Zielgerichtetheit erschien Vergeltung als eine Maßnahme, die
noch kein Krieg war. Interessant an Hallecks Version ist das charakteristische
westliche Selbstverständnis, eigene Gewalt als defensiv und zivilisiert zu
sehen, im Gegensatz zur aggressiven und unzivilisierten Gewalt der Gegner:
„Weigert sich der Gegner, sein Vorgehen den milderen Gebräuchen des Krieges
anzupassen und hält er sich an das extreme und strikte Prinzip früherer
Zeitalter, so können wir das Gleiche tun; doch wenn er diese extremen Rechte
überschreitet und in seinem Vorgehen barbarisch und grausam wird, so können
wir im Allgemeinen dem nicht folgen und uns an seinen Untertanen dadurch
revanchieren, dass wir sie genauso behandeln.“ (Halleck 1864: 108)
Zivilisiert zu bleiben bedeutete, die Wilden nicht nachzuahmen, indem man
nach der Lehre Vitorias an den Prinzipien der Verhältnismäßigkeit festhielt.
Halleck zitierte aus Liebers Instructions for the Government of the Armies
of the United States in the Field die Bestimmung: „Ungerechte oder unachtsame
Vergeltung führt dazu, dass sich die Kriegsparteien zunehmend von
den mildernden Regeln der regulären Kriegführung entfernen und lässt sie
sich mit schnellen Schritten an die mörderische Kriegführung der Wilden
annähern“ (ebd.). Zivilisierte Kriegführung war eingegrenzt.
Und doch gab es wie bei Vitoria und seinen Nachfolgern Ausnahmen zu
dieser abmildernden Regel, nach der die Unschuldigen geschont werden
sollten. Dies war die Regel der kollektiven Verantwortlichkeit und der kollektiven
Bestrafung. So meinte Halleck, dass „eine Stadt, eine Armee oder
eine ganze Gruppe manchmal für die widerrechtlichen Handlungen ihrer
Herrscher oder einzelner Mitglieder bestraft wird“. Zu diesem Schluss kam er
durch die Beobachtung, wie während des Bürgerkrieges in der Konföderation
extreme Maßnahmen massenhafte Unterstützung erhielten. „Die gesamte
Rebellenpresse befürwortete und rechtfertigte sie, und selbst die Rebellen-
Frauen haben ihr Geschlecht und ihre Mission der Barmherzigkeit auf Erden
so weit vergessen, dass sie Grausamkeiten befürworteten und anstachelten,
von denen man glaubte, nur ein barbarisches Volk im wildesten Zeitalter
werde sie begehen“ (Ebd.: 111f). Ein Widerhall dieser Argumentation fand
sich im Gaza-Krieg, als israelische Angriffe auf zivile Gebiete damit gerechtfertigt
wurden, die Bevölkerung unterstütze Hamas, die sie als menschliche
Schilde benutze; da also die Palästinenser auf barbarische Weise kämpften,
wurden sie kollektiv verantwortlich, ja schuldig (s.u.).
Wie üblich fuhr Halleck fort, selbst unter derartigen Umständen dürfe
zivilisierte Vergeltung „niemals zu wilder oder barbarischer Grausamkeit
verkommen“ (ebd.: 110). Diese Zurückhaltung unterschied den Westen
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 407
von seinen Anderen. Ob solche Selbstrechtfertigungen jedoch viel mit der
Wirklichkeit kolonialer Kriegführung zu tun hatten, ist eine Frage, die indigene
Andere zu beantworten haben. Ein Beobachter bemerkt, dass im 19.
und 20. Jahrhundert Vergeltungsmaßnahmen allzu oft dazu benutzt wurden,
„bewaffnete Interventionen und imperialistische Kriege“ zu rechtfertigen.
Sie waren im Grunde nur ein „Vorwand, um illegitimes Verhalten im Krieg
zu rechtfertigen, anstatt ein effektives Mittel, die Beachtung der völkerrechtlichen
Regeln durchzusetzen“ (Bierzanek 1987/88: 830f). Wir wissen, dass
indigene Völker westliche Vergeltungsmaßnahmen als wild und grausam
erlebten. Das zeigen die Tatsachen zahlloser Feldzüge zur Unterdrückung von
Aufständen. Zehntausende Filipinos starben durch Hunger und Krankheiten,
als die US-Streitkräfte bei ihrer Unterdrückungsaktion in Batanguas zwischen
1899 und 1902 den Landstrich verwüsteten und die Bevölkerung gewaltsam
in Loyale und Illoyale einteilten und entsprechend trennten (vgl. May 1979).
Das zwanzigste Jahrhundert
Derartiges taktisches Vorgehen war so verbreitet, weil damals ein Konsensus
herrschte, das Recht im Kriege gelte sowieso nicht für „Wilde“. Heinrich von
Treitschke (1918: 570) brachte die herrschende Meinung so zum Ausdruck:
„Aber das Völkerrecht wird zur Phrase, wenn man dergleichen Prinzipien
[Verbot des Kampfes gegen das Privateigentum, des Anzündens eines
Dorfes aus bloßem Übermut] auch auf barbarische Völker anwenden will.
Einem Negerstamme muß man zur Strafe seine Dörfer anzünden, ohne ein
solches Exempel richtet man nichts aus.“ Die Briten hatten diese Lektion
längst auf verschiedenen Feldzügen in Afrika gelernt und wandten sie auf
weiße Buren ebenso an wie auf schwarze Afrikaner (vgl. Lieven 1999). Der
bekannte englische Rechtstheoretiker John Westlake (1828-1913) bemerkte
dementsprechend in seinem Buch International Law:
„Doch häufi g können die Übergriffe und sonstigen Ungeheuerlichkeiten, die
wilde und halbzivilisierte Stämme begehen, nur durch Strafexpeditionen unterdrückt
werden, bei denen die gesamte Bevölkerung leiden muss, weil die
Regierung nur ungenügend von ihr unterschieden ist. Alle zivilisierten Staaten,
die in Kontakt mit der äußeren Welt stehen, sind zu ihrem großen Leidwesen
in ihren Grenzkriegen mit solchen Expeditionen vertraut, und das Prinzip, dass
es die einzig legitime Handlungsweise sei, die militärischen Kräfte des Feindes
zu schwächen, kann auf sie keinerlei Anwendung fi nden.“ (Westlake 1907: 55)
Er fügte zwar hinzu, dass „kein humaner Offi zier ein Dorf niederbrennen
wird, wenn er irgendeine Möglichkeit zu einem ausreichenden Schlag
hat, den allein die kämpfenden Männer zu spüren bekommen“, doch er
408 A. Dirk Moses
bezweifelte zugleich nicht, dass die „Wilden“ grundsätzlich eben aufgebracht
und zornig seien, ohne zu fragen warum. Zu diesem Zeitpunkt hatten die
westlichen ebenso wie einige asiatische und afrikanische Staaten die Haager
Konventionen unterzeichnet.7 Darin war auch die Besatzung rechtlich
geregelt (Art. 42-56 der Konvention von 1907), doch Westlake ging es
darum, dass Art. 25, der den „Angriff auf nicht verteidigte Städte, Dörfer,
Ansiedlungen oder Gebäude oder deren Bombardement“ verbietet, nicht
auf Fälle in den Kolonien anwendbar sei, weil „der Haager Kodex sich nur
auf den Krieg zwischen zivilisierten Staaten bezieht“ (Westlake 1907: 76).
Die Ausübung von Terror gegen nicht-zivilisierte Menschen war legal und
gerecht. In dieser Hinsicht erschienen die britischen und amerikanischen
Bedenken gegenüber dem Insistieren von preußisch-deutscher Seite, dass die
Zwänge des Krieges jede moralische Rücksicht überspielten – Kriegsraison
geht vor Kriegsmanier8 – ziemlich schwach. Erkannten die hohen deutschen
Militärs die Doktrin der Verhältnismäßigkeit nicht an, so unterstrichen sie
lediglich die zentrale Bedeutung militärischer Notwendigkeit, der ihre angelsächsischen
Gegenüber letztlich ebenfalls zustimmten.9
Westlakes Zeitgenosse Lassa Oppenheim (1858-1919), ein deutscher Jurist,
der während der letzten Jahre seiner Karriere in England lehrte, schenkte
den Umständen der Landnahme größere Aufmerksamkeit ( Oppenheim
1912). Er schrieb das Buch kurz vor der Haager Konvention von 1907 und
bestimmte aufschlussreicherweise „Besatzung“ (occupation) nicht als Kategorie
des Kriegsrechtes, sondern als Synonym für Kolonisierung. Land,
das sich nicht unter einem Souverän befand, stand der Besitzergreifung (occupation)
durch eine andere Macht offen. Diese Besitzergreifung bedeutete
daher keine „Unterwerfung“ (subjugation) – worunter er Eroberung und
Annexion verstand –, sondern stand der „Abtretung“ (cession) von Land
nahe, das man von „einem auf dem Land lebenden Eingeborenenstamm“
nahm. (Oppenheim 1912: 296). Da sich das Völkerrecht lediglich auf den
zwischenstaatlichen Verkehr bezog, war es auf „Eingeborenenstämme“
nicht anwendbar. Dementsprechend waren Besitzergreifung und Abtretung
für Oppenheim und seine Zeitgenossen im Grunde das Gleiche; Eingeborenenhäuptlinge
waren keine Souveräne im westlichen Sinne, noch waren die
„Eingeborenen“ demzufolge Völker. Sie waren „Stammesgemeinschaften“
und daher nicht Mitglieder der „Völkerfamilie“. Diese Argumentationslinie
sollte Jahrzehnte später im Hinblick auf den Besatzungsstatus der Westbank
wieder aufl eben.
Weil die Beziehungen zwischen Staaten und derartigen Gemeinschaften
keine zwischenstaatlichen Beziehungen sein konnten, verwies Oppenheim
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 409
auf eine Reihe von Winkelzügen, mit denen die Großmächte ihrer gegeneinander
verlaufenden Kolonialexpansion Geltung verschafften:
„Der zunehmende Wunsch zum Erwerb gewaltiger Territorien durch Staaten,
die nicht in der Lage sind, diese Territorien sogleich effektiv zu besetzen, hat
während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass Vereinbarungen
mit den Häuptlingen der Eingeborenen geschlossen wurden, die nicht
besetzte Territorien bewohnten. Dadurch stellen sich diese Häuptlinge unter das
‘Protektorat’ von Staaten, die Mitglieder der Völkerfamilie sind.“ (Ebd.: 296)
Er setzte „Protektorate“ in Anführungszeichen, weil diese Gebiete nicht den
erforderlichen Status besaßen. Diese Arrangements stellten daher „nichts
anderes dar als Schritte, um andere Mächte von der Besetzung der fraglichen
Territorien auszuschließen“ (ebd.: 297). Es handelte sich also um die
Vorbereitung künftiger Besitzergreifung.
Oppenheim schrieb vor dem Ersten Weltkrieg und sorgte sich nicht darum,
dass das Völkerrecht westlich zentriert war; dagegen zog die Selbstbestimmungs-
Rhetorik von Woodrow Wilson im Vorfeld der Friedenskonferenz
von Versailles 1919 viele kolonisierte Völker in die internationale Sphäre.
Auch wenn die Kritik an westlichem Imperialismus und Kolonialherrschaft
im 19. Jahrhundert, oft unter Bezug auf Vitoria und Las Casas, sehr verbreitet
war (vgl. Fitzmaurice 2008), stellten nun nationalistische Intellektuelle aus
dem Fernen und Mittleren Osten die koloniale Ordnung entschieden in Frage
(vgl. Manela 2007). Die Großmächte ließen diese Hoffnungen in Versailles
am Ende scheitern, weil sie entschlossen waren, ihre eigenen Kolonial reiche
zu bewahren und das deutsche aufzuteilen. Sie hielten damit implizit an
der Teilung der Welt in zivilisierte und unzivilisierte Komponenten fest,
in denen das Recht im Kriege in unterschiedlicher Weise gelten sollte.
So griffen die Briten bei der Befriedung ihres Mandatsgebiets im Irak zu
Luftbombardements arabischer Dörfer, obwohl dies die Haager Konvention
ebenso verletzte wie das britische Manual of Military Law 10
Die Bombardierung von Damaskus durch die französische Armee im
Oktober 1925 im Zuge der Befriedung des Mandatsgebietes Syrien löste
eine wichtige Kontroverse im American Journal of International Law über
die Rechtmäßigkeit der Terrorisierung von Zivilbevölkerung aus. Einer der
Herausgeber, der amerikanische Professor für internationale Beziehungen
Quincy Wright (1890-1970), kritisierte die französische Aktion aus einer
Reihe von Gründen. Seine gut gemeinten Argumente hielten sich im Rahmen
der völkerrechtlichen Tradition und zeigten die Grenzen auf, die einer
Verteidigung indigener Rechte hier gesetzt waren. Die Umstände waren
folgende: Nachdem sie Aufständische exekutiert und benachbarte Dörfer
410 A. Dirk Moses
niedergebrannt hatten, verschanzten sich die französischen Truppen auf der
Zitadelle im Zentrum von Damaskus und beschossen zwei Tage lang die
Stadt von innen, nachdem sie dort von Aufständischen angegriffen worden
waren. Sie zerstörten acht Stadtviertel und töteten zwischen 500 und 1000
Einwohner, einschließlich Frauen und Kindern. War dies im Rahmen geltenden
Rechts zulässig? Die Franzosen erklärten, das Kriegsrecht erstrecke
sich nicht auf Banditen; das Mandat betraue sie mit der Aufrechterhaltung
von Recht und Ordnung, und daher sei ihr Vorgehen eine ausschließlich
innere Angelegenheit, die das Völkerrecht nicht betreffe.
Ohne darauf einzugehen, dass das Bombardement weit über eine Polizeiaktion
hinausging, wies Wright darauf hin, der Aufstand habe politische
Ziele verfolgt und sei kein kriminelles Unternehmen, selbst wenn die
Aufständischen durchaus gegen eine gesetzmäßig eingesetzte indigene
Regierung revoltierten, die mit den Franzosen kooperierte. Wright gestand
unter Berufung auf Oppenheim zu, dass das Völkerrecht üblicherweise
zwischen Christen und Nicht-Christen, Abendland und Nicht-Abendland,
Zivilisierten und Unzivilisierten unterscheide; deshalb sei die Eroberung
Algeriens durch Frankreich 1830 rechtlich keine Eroberung, sondern ein
Akt der Disziplinierung gewesen. Ebenso gehörte das Recht auf Vergeltung
weiter zum rechtlichen Inventar. Was aber, wenn solche Völker zu erkennen
gaben, dass sie das Völkerrecht anerkannten? Sie könnten darunter fallen,
zumal die Türkei als früherer Souverän Syriens die Haager Konvention
unterschrieben hatte (Wright 1926: 265). Nun wissen wir, dass die Haager
Konvention die Beschießung nicht verteidigter Städte verbot, aber traf sie
hier zu? Die kollektive Bestrafung der Damaszener für die Handlungen der
Aufständischen ließ sich als Vergeltung rechtfertigen, obwohl die Bombardierung
als unverhältnismäßig erschien. Das war alles.
Wright meinte praktisch, die Franzosen hätten auf eine „Politik des Terrorismus“
zurückgegriffen, weil sie fürchteten, aus Damaskus vertrieben
zu werden und weil ihre Mannschaftsstärke über die gesamte Mandatszeit
hinweg zu niedrig war. Im Endeffekt glaubte er, das Kriegsrecht sei anwendbar,
soweit sich die syrischen Aufständischen als reguläre Soldaten
konstituierten und die Haager Konventionen befolgten. Wie bei Vattel bedeutete
die gegenüber indigenem Widerstand wohlwollende Auslegung des
Völkerrechtes, dass das Verbot ziviler Beteiligung – welches die „wilde“
oder „altertümliche“ Kriegführung kennzeichnete – die Aufständischen
zwang, der Okkupationsarmee im offenen Kampf gegenüberzutreten, was
mit Sicherheit ihre vollständige Niederlage bedeutete.
Der Hauptmann der US-Armee Elbridge Colby (1891-1982) antwortete
Wright mit der Offenheit eines mit Operationen im Feld vertrauten Offi ziers.
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 411
Er betonte, die Unterscheidung zwischen zivilisierter und unzivilisierter
Kriegführung sei legitim. Reguläre Befehlshaber „müssen ihre Probleme
auf völlig andere Weise angehen, als wenn sie sich mit westlichen Völkern
auseinandersetzen“ (Colby 1927; 284). Er verwies darauf, dass das Völkerrecht,
das auf christlichen Vorstellungen der Ritterlichkeit basiere und
von Denkern wie Grotius und Vattel überliefert worden sei, diesen Grundtatbestand
zum Ausdruck bringe. Wie Autoren des 16. Jahrhunderts insistierte
Colby, Wilde machten nicht die moderne Unterscheidung zwischen
Kombattanten und Nicht-Kombattanten, weil hier die gesamte Gesellschaft
kämpfe. „Ganze Stämme ziehen ins Feld“. Die „allgegenwärtige Brutalität
der rothäutigen Kämpfer“ belege ihre Unfähigkeit, diese zivilisierten Unterscheidungen
zu beachten. „Bei ihnen kann man kaum an Völkerrecht
denken.“11 Colby zitierte Vitoria und verteidigte General Kitcheners Angriffe
auf burische Siedlungen und britische Luftbombardements in Afghanistan.
Wie immer wurde all dies als Selbstverteidigung dargestellt, auch wenn es
sich eindeutig um Aggression handelte. Zu den nordamerikanischen „Indianerkriegen“
bemerkte Colby, dass „die einfachen Soldaten der Vereinigten
Staaten die Grenzen Amerikas verteidigt und nach Westen vorgeschoben
haben“ (ebd.: 285). Er verband so den Anspruch auf weiße Expansion mit
einer ausdrücklich defensiven Haltung, wie es seit der Antike für das westliche
Rechtsdenken typisch war. Dass die Indianer legitimerweise ihr Land
verteidigten, war begriffl icher Unsinn, weil sie, wie Oppenheim gezeigt
hatte, nicht seine souveränen Eigentümer, sondern nur Einwohner waren.
Im Grunde, so fuhr Colby fort, war das normale Recht auf Vergeltung bedeutungslos,
weil die Eingeborenen dies nicht als Aufforderung verstünden,
sich nach dem Gesetz zu richten. Daher sei ein „strenges und anhaltendes
System der Vergeltung“ am Platz; es konnte auch kaum überraschen, dass ein
hoher kanadischer Politiker mit einem „Ausrottungskrieg“ gegen Indianer
drohte, sollten sie Siedler angreifen (ebd.: 284). Der Imperativ forderte, das
eigene Volk zu schützen, koste es was es wolle.
„Der wirkliche Kern der Sache ist, dass Verwüstung und Vernichtung die
Hauptmethode der Kriegführung sind, die wilde Stämme kennen. Übertriebene
humanitäre Vorstellungen sollten nicht der Härte gegen diejenigen entgegenstehen,
die harte scharfe Methoden einsetzen, denn ein Befehlshaber, der allzu
freundlich zu seinen Feinden ist, ist einfach unfreundlich zu seinen eigenen
Leuten.“ (Ebd.: 285)
Selbst die Haager Konvention schließe unter zivilisierten Mächten nicht die
„elastische Doktrin der militärischen Notwendigkeit“ aus, und seiner Meinung
nach bestand die „uralte Regel“ fort, weil dies die einzige Methode sei,
412 A. Dirk Moses
Menschen unter Besatzung von der Revolte abzuhalten (Colby 1926: 170;
1925: 917). Wir werden sehen, dass der Streit zwischen Wright und Colby
im Gaza-Krieg über 80 Jahre später eine Neuaufl age erlebte.
Das rechtliche Verbot der Guerillakriegführung konnte selbst während
des Zweiten Weltkrieges denn auch die anglophone Diskussion lediglich
irritieren. Gewiss erkannten Autoren damals die Legitimität des Widerstandes
von Partisanen gegen die Nazi-Besatzung in Osteuropa an – „es ist völlig
gerechtfertigt, wenn sie so handeln“, wenn sie „in der Lage sind, einen
effektiven Guerillakrieg zu führen“ (Stowell 1942: 646). Aber sie bemerkten
auch, man könne nicht „erwarten“, dass die Partisanen „als friedliche
Nicht-Kombattanten behandelt werden, wenn sie Sabotageakte begehen
oder Krieg führen.“ So durfte der Besatzer – man folgte Colbys Spur –
„angemessene Mittel anwenden, um Druck auf die friedlichen Einwohner
auszuüben, damit sie sich nicht an diesen Feindseligkeiten beteiligten,
oder sie zu Anstrengungen zu veranlassen, diese zu verhindern. Aber was
genau angemessen ist, wird dadurch bestimmt, was wirklich effi zient ist.“12
Unter Berufung auf Halleck verteidigte Ellery Stowell sogar die kollektive
Bestrafung von Zivilisten:
„Doch wenn es nicht möglich ist, diejenigen zu ergreifen, die diese Taten
begangen haben, entspricht es den militärischen Zwängen und dem Gewohnheitsrecht,
der gesamten Gemeinschaft, in der diese Dinge geschehen sind, das
aufzuerlegen, was man als repressive Vergeltung bezeichnet. Wie im Fall anderer
Vergeltungsakte werden dadurch Unschuldige bestraft, doch der Krieg selbst
beruht auf dem Prinzip der kollektiven Verantwortlichkeit.“ (Stowell 1942: 650)
Die Nazis, argumentierte er weiter, hatten die Regeln der Verhältnismäßigkeit
verletzt – Hallecks Rat, nicht in Barbarei zurückzufallen – und so „Hekatombe
auf Hekatombe unschuldiger Vergeltungsopfer“ aufeinandergetürmt
(ebd.). In der Tat beschränkten die Nazis das Kriegsrecht auf diejenigen, die
sie dem zivilisierten Abendland zurechneten, und nahmen die slawischen
Völker und natürlich die Juden davon aus. In dem berüchtigten Kommissarbefehl,
der ausgegeben wurde, als sie 1941 die „Operation Barbarossa“
begannen, ging es darum, dass das Völkerrecht sich nicht auf die sowjetischen
Soldaten erstrecke, weil sie in den Augen der Nazis barbarisch in dem
von Colby formulierten Sinne seien (vgl. Streim 1997). In ihrer Paranoia
steigerten die Nazis den Sicherheitsimperativ der Selbsterhaltung bis zu
seiner äußersten logischen, genozidalen Konsequenz.
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 413
Selbstbestimmung, nationale Befreiung und Völkerrecht
Teilweise als Konsequenz aus diesen Exzessen versuchte man nach dem
Zweiten Weltkrieg, im Völkerrecht dessen Verletzung im Namen der
Selbsterhaltung eher als „Rechtfertigung“ denn als „Recht“ zu behandeln.
So erkannte die Genfer Konvention von 1949 Zivilisten größere Rechte zu
als in der Vergangenheit. Doch die bedeutsamste Veränderung im Bereich
der Besatzung war das entgegengesetzte Prinzip der Selbstbestimmung, die
Losung der nationalen Befreiungsbewegungen.
Mit dem Beitritt neuer Staaten zu den UN entwickelte sich in der Generalversammlung
eine Mehrheit, die Resolutionen gegen Rassismus, Kolonialismus
(wobei nach 1967 Israel hervorgehoben wurde) und Apartheid
(gegen Südafrika und Rhodesien) verabschiedete. Indem sie die Selbstbestimmung
zu einer Priorität der UN machte – immerhin wird sie in Art. 1
und 55 der UN-Charta erwähnt –, versuchte diese Bewegung, Bürgerkriege
oder Sezessionskriege zu internationalen Angelegenheiten zu machen. Dadurch
wurden die nationalen Befreiungsbewegungen formal mit dem Status
kriegführender Parteien ausgestattet. In einer Reihe von Resolutionen, Pakten
und Deklarationen ging die Generalversammlung in den 1960er und 1970er
Jahren sogar so weit zu erklären, dass es den Kolonialmächten verboten
sei, „gewaltsame Maßnahmen“ zur Verhinderung der Selbstbestimmung zu
ergreifen und dass ferner Völker unter fremder Herrschaft „jedes ihnen zur
Verfügung stehende Mittel“ einsetzen könnten „um für sich dieses Recht [auf
Selbstbestimmung] wiederzuerlangen.“13 Für die Blockfreien-Bewegung
war Kolonialherrschaft gleichbedeutend mit permanenter Aggression, die
legitim mittels gewaltsamer Selbstverteidigung abgewehrt werden durfte,
obwohl die Freiheitskämpfer auch das Kriegsrecht achten und keine Zivilisten
terrorisieren sollten (vgl. Abi-Saab 1972: 100, 111). Diese Strategie war
in den 1970er Jahren, als viele Befreiungsbewegungen Beobachterstatus bei
den UN erhielten, recht erfolgreich (vgl. Detter de Lupis 2000). Schließlich
verliehen auch die Art. 43 und 44 der Protokolle zur Genfer Konvention von
1977 Guerilla-Streitkräften (auch wenn sie nicht so genannt wurden) den
Kombattanten-Status, so weit sie unter einem zentralen Kommando standen,
Waffen trugen und offen kämpften, so dass sie sich von Zivilisten klar
unterschieden – wie Rechtsdenker dies jahrhundertelang gefordert hatten.14
Wie zu erwarten, wurden diese Überlegungen im westlichen Bündnis nicht
freundlich aufgenommen. Hier billigte man dem bewaffneten Widerstand
überhaupt keine Legitimität zu (vgl. Wilson 1990: 133). Der prominente
israelische Gelehrte Yoram Dinstein leistete Pionierarbeit, um der traditionellen
Theorie der Besatzung im Krieg gegenüber der Vorstellung, diese sei
414 A. Dirk Moses
illegal und gewaltsamer Widerstand legal, neue Geltung zu verschaffen.15
Ausgehend vom Fallbeispiel der israelischen Besatzung auf der Westbank –
obwohl Israel die Geltung der Genfer Konvention hier nicht anerkennt und
erklärt, sich nur freiwillig der Haager Konvention zu unterwerfen – meint
er, die menschenrechtlichen Maßnahmen zum Schutz der palästinensischen
Bevölkerung seien nicht mit den Rechten des Besatzers vereinbar und sogar
„irreführend“, weil sie letztlich durch die Sicherheitsanliegen wenigstens
teilweise unterlaufen würden (Dinstein 2009: 286).
Sein Argument, dass Sicherheits-Imperative Gruppen- und Menschenrechte
der Palästinenser aushebeln können, trifft zu. Es geht mir in diesem Beitrag
um den Nachweis, dass diese Gewichtung das Wesen des Völkerrechts ausmacht.
Dinstein zeigt ebenfalls zutreffend, wie die Haager Konvention den
Besatzer ermächtigt, im besetzten Territorium im Interesse effektiver Verwaltung
und Entwicklung einzugreifen (Art. 43). Nun ist es der springende Punkt
der Besatzung als Rechtskategorie, dass es sich um eine vorübergehende
Situation handelt, die bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages anhält
– zumindest haben die Delegierten bei den Haager Konventionen sich das
so vorgestellt. Besatzungen sollten nicht zu Annexionen werden, weil das
Völkerrecht den Erwerb von Souveränität durch Eroberung nicht anerkennt.
Was aber, wenn kein solcher Vertrag ausgehandelt und die Besatzung zum
Dauerzustand, zu etwas wird, was der Politikwissenschaftler Adam Roberts
(1990) „anhaltende Militärbesatzung“ nennt? Unter solchen Umständen, so
fährt Dinstein fort, sollte die Annexion überlegt werden:
„Das Völkerrecht darf nicht von der Wirklichkeit abgekoppelt werden. Wenn
nach einem Krieg eine Annexion über mehrere Jahrzehnte hinweg klar gefestigt
ist, so mag die Schlussfolgerung unausweichlich werden, dass neue Rechte
(die de iure gelten) sich herauskristallisiert haben, obwohl sie sich aus einer
Verletzung des Völkerrechtes in ferner Vergangenheit herleiten. Selbst wenn
der anfängliche Akt der Annexion ungültig ist, so wird die anhaltende (und
unangefochtene) Ausübung der Souveränität am Ende unabhängig von dem
ursprünglich einmal fehlerhaften Rechtstitel nun bindende Rechte schaffen.
Es kommt der Punkt, wo das System des Völkerrechtes vor den Fakten ‘kapitulieren’
muss.“ (2005: 171)
Die Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes in der Westbank, das die
Besatzung – ebenso wie, wenn auch in unterschiedlicher Form, die jordanische
Kontrolle bis 1967 – immer bekämpft hat, spielt in diesem Szenario offenkundig
keine Rolle. Ein Grund dafür besteht darin, dass Israel im Unterschied
zu Gaza und den Golanhöhen auf der Westbank keinen vorherigen Souverän
anerkennt, weil Jordanien nach 1948 nicht der legale Besitzer war. Und Israel
glaubte auch nicht, die Einwohner der Westbank besäßen den Status eines
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 415
Volkes und könnten demnach Selbstbestimmung einfordern. Dies ist ein Erbe
der Argumentation Oppenheims über die Stammesvölker, die im Völkerrecht
nicht zählen. Dann hieß und heißt es, Israel solle die 1967 eroberten Territorien
aus Sicherheitsgründen behalten dürfen – „um sicherzustellen, dass solches
arabisches Territorium nicht erneut zu Aggressionszwecken gegen Israel
genutzt wird“ – wie Vitoria Jahrhunderte zuvor argumentiert hatte (Schwebel
1970: 347; s. allgemein Mallison & Mallison 1986).
Das Ergebnis der Debatte ist letztlich, dass die israelische Besatzung der
Westbank nur so lange von Dauer sein kann, wie Israel keinen Friedensvertrag
mit seinen Nachbarn unterzeichnet, sowie ferner, dass es unter dem Vorwand
effektiver Verwaltung und vor allem der Sicherheit dieses Territorium
praktisch nach Belieben entwickeln kann – ungeachtet gewisser Beschränkungen
nach den Haager und Genfer Konventionen (Art. 49, 53 und 55).
Unter diesen Umständen ist die Besatzung nicht nur lang andauernd, sondern
„transformativ“, zumal dann, wenn es zur Besiedelung des Territoriums im
großen Stil kommt (Roberts 2006). Von Eyal Benvenisti stammt der scharfsinnige
Hinweis, dass das Völkerrecht zwar lang anhaltende Besatzungen
nicht als illegal betrachte, doch solle die Weigerung des Besatzers, ehrlich zu
einer friedlichen Lösung zu kommen, sie dazu machen, weil eine derartige
Obstruktion „als regelrechte Annexion“ des Territo riums zu betrachten sei –
und Annexion bleibt illegal. Auch er meint jedoch, Sicherheitserwägungen
seien ein legitimer Grund dafür, dass Besatzer ein Territorium behalten.16
In diesem Fall wird die Besatzung andauern, und Dinsteins Position wird
sich durchsetzen.
Schluss: Gaza, Widerstand und Vergeltung
Stellen wir dem orthodoxen Sicherheits-Paradigma eine Konzeption gegenüber,
die ein palästinensisches Recht oder doch ein Streben nach Selbstbestimmung
anerkennt. Darin würde zur Kenntnis genommen, dass genau
die Dauerhaftigkeit der Besatzung den Widerstand erst schafft, der dann
den Sicherheits-Imperativ auf den Plan ruft (vgl. Bornstein 2008). Welches
Recht also kommt dem Widerstand zu? Antworten, die über die begriffl ichen
Beschränkungen des völkerrechtlichen und moralphilosophischen Standpunkts
– vor allem die (verständliche) Hauptsorge um die zivilen Opfer
– hinausgehen und sich mit den Modalitäten der Besatzung auseinandersetzen,
müssen den politischen Kontext berücksichtigen, in dem gewaltsamer
Widerstand gegen Besatzung stattfi ndet, zumal gegen eine anhaltende und
transformative Besatzung. Das Völkerrecht berücksichtigt nicht ernsthaft
die Perspektive derer, die unter Besatzung leben. Wie erleben sie über
416 A. Dirk Moses
Jahrzehnte diese Verhältnisse? Besatzungen, die durch scharfe und strikte
Sicherheitsmaßnahmen gekennzeichnet sind, erscheinen in diesem Licht:
„Die kollektive Bestrafung von Menschen, die den Zwängen einer militärischen
Besatzung mit territorialen Zielsetzungen unterliegen, ist eindeutig ebenso
sehr eine Form des Terrorismus wie der Einsatz von Selbstmordattentätern,
die tödliche Kampfmittel an Orten zur Explosion bringen, wo sich zahlreiche
unschuldige Zivilisten befi nden.“ (Falk 2002: 21)
Gewiss wird diese Gleichung vielen als Donquichotterie und geradezu als
frevelhaft erscheinen, aber Richard Falk, von dem sie stammt, bringt exakt
die Überlegungen eines Großteils der Palästinenser zum Ausdruck. Sie fühlen
sich durch die Übergriffe in besonderem Maße verletzt vor dem Hintergrund
ihrer Erwartung auf Selbstbestimmung, die sie in unterschiedlicher Form das
gesamte 20. Jahrhundert hindurch aufrecht erhalten haben. In dessen Verlauf
wurde dieses Recht nicht nur verweigert, sondern die Existenz einer palästinensischen
Nationalität wurde häufi g ebenfalls bestritten. Im Grunde bedeutet
die Besatzung eine Unterbrechung der Entkolonisierung, die mit dem
Ende des britischen Mandates eingeleitet wurde. Das Recht der Palästinenser
auf Rückkehr, das durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates verbrieft
ist, wird ebenso als ein Recht betrachtet. Die anhaltende und transformative
Besatzung, die effektiv zur Annexion eines Großteils des palästinensischen
Gebietes führt, indem es mit jüdischen Siedlern aus der ganzen Welt bevölkert
wird, hat die Palästinenser in ein „tragisches Dilemma“ gezwungen:
entweder vor der Annexion zu kapitulieren, weil gewaltloser Widerstand den
Siedlungsbau nicht stoppen kann, oder gewaltsam Widerstand zu leisten, also
Terrorismus zu üben (ebd.: 29, 39). Dieses Dilemma, das in der Analyse von
Falk auf Palästina beschränkt ist, lässt sich auf die Beziehungen zwischen
Siedlern und Indigenen über die Jahrhunderte hinweg verallgemeinern.
Fürsprecher Israels lassen dies nicht gelten und betonen, der Terrorismus sei
die Ursache der Besatzung und nicht umgekehrt. So schreibt Alan Dershowitz,
Israel halte die Westbank besetzt, um sich zu verteidigen und bringt so Argumente
vor, mittels derer westliche Denker jahrhundertelang Expansion mit
defensiver Gewalt verknüpft haben (vgl. Dershowitz 2006). Wie Halleck
glaubt er, die Bestrafung von Kollektiven – in diesem Fall palästinensischer
Zivilisten – sei legitim, weil sie angeblich „den Mord an Zivilisten“ unterstützen,
wie er formuliert. Er befürwortet keine bewusste, gezielte Aktionen
gegen Zivilisten – das machen Terroristen – aber er empfi ehlt wirtschaftliche
Sanktionen, das Niederwalzen von Gebäuden usw. als legitime Vergeltung
(Dershowitz 2002: 174f). Israels Bombardierung von Gaza, schrieb er, war
„völlig verhältnismäßig“. Er berief sich dazu auf Selbstverteidigung, miliBesatzung,
Kolonialherrschaft und Widerstand 417
tärische Notwendigkeit und Anstrengungen zur Schonung von Zivilisten
(Dershowitz 2009). Wie Vitoria vor ihm rechtfertigt er den Tod unschuldiger
Zivilisten, wenn sie im Verlauf legitimer Vergeltung getötet werden:
„Das Gesetz muss sicherlich unschuldige Zivilisten schützen. Der erste Schritt,
der hier getan werden sollte, ist anzuerkennen, dass es ein Kriegsverbrechen
ist, wenn Terroristen sich unter Zivilisten verstecken und so die Demokratien
zu der Wahlentscheidung zwingen, ob sie den Terroristen gestatten sollen, mit
der Tötung unschuldiger Zivilisten in einer Demokratie fortzufahren oder ob
sie militärisch vorgehen sollen, was häufi g dazu führt, dass einige Zivilisten
umkommen. Alle zivilen Opfer im israelisch-palästinensischen Konfl ikt gehen
ausschließlich zu Lasten der palästinensischen Terroristen, die bewusst eine
Lage schaffen, in der Zivilisten getötet werden.“ (Dershowitz 2005)
Dershowitz sagte dies 2005. Während des Angriffs auf Gaza 2008/09
stellte Amnesty International fest, dass Hamas nicht unmittelbar Zivilisten
als menschliche Schilde benutzt hatte, obwohl es zur Kenntnis nahm, dass
Hamas-Kämpfer Raketen von zivilen Gegenden aus abschossen, bevor sie
diese verließen. (Amnesty kritisierte Israel dafür, palästinensische Zivilisten
als menschliche Schilde benutzt zu haben, indem sie als Geiseln in ihren
Häusern festgehalten wurden, die dann als Scharfschützen- und Beobachtungsstellungen
genutzt wurden).17 Gefragt, warum die Hamas-Kämpfer das
taten, berichtete eine Journalistin der New York Times in Gaza folgendes:
„In einem Interview mit CNN fragte mich der Moderator, während die Kämpfe
noch andauerten, ob die Hamas aus Wohngebieten heraus schieße. Ich gab zur
Antwort: Ja, denn ich hatte Belege dafür und war Zeugin geworden, wie eine
Rakete aus einem zivilen Gebiet abgefeuert wurde. Dann fragte der Moderator
mich, warum Hamas das tue. Ich antwortete, dass nach Aussage des hohen
Hamas-Führers Mahmoud al-Zahar Hamas keine andere Wahl habe. Die
Hamas sagt, dies sei das einzige Instrument, das ihr zur Verfügung stehe, um
Israel unter Druck zu setzen, damit es die Blockade gegen den Gaza-Streifen
beende. Hamas argumentiert, der Gaza-Streifen sei so klein (gerade einmal die
Fläche von Detroit), dass die Drohnen und die F-16-Jets die Kämpfer sogleich
töten würden, wenn sie unmittelbar an der Grenze oder vom freien Feld aus
schössen.“ (El-Khodary 2009)
Hier haben wir also die beschränkten Bedingungen legitimen Widerstandes
eines indigenen Volkes, wie sie von Vattel entwickelt wurden. Von den
1.499.369 Einwohnern von Gaza sind 1.030.638 bei UNRWA als Flüchtlinge
registriert – zwei Drittel der Bevölkerung.18 Nach Angaben der Vereinten
Nationen kamen die meisten, die „wegen des Israelisch-Arabischen Krieges
von 1948 in den Gaza-Streifen fl ohen, aus Jaffa, Städten und Dörfern südlich
von Jaffa sowie aus der Gegend von Beersheva im Negev.“19 Man könnte
418 A. Dirk Moses
Dershowitz fragen, wer nun diese Situation geschaffen hat. Er könnte antworten,
dass Palästinenser und Araber generell den UN-Teilungsplan von
1947 ablehnten und nun die Last ihrer historischen Entscheidung zu tragen
hätten. Aber was ist zuvor mit dem zionistischen Kolonisierungsprojekt?
Von Anfang an betrachteten die Zionisten ihre Anwesenheit in Palästina
als ein Recht und den palästinensisch-arabischen Widerstand dagegen als
illegitim. Sie verstanden es als Verteidigungshaltung, wenn Juden das Recht
beanspruchten, das Land zu kolonisieren und die lokale arabische Bevölkerung
demographisch zu überwältigen – obwohl die lokale Bevölkerung dies
natürlich als aggressiv und expansiv erlebte.20 Dies ist das Muster aggressiver
Selbstverteidigung, das wir seit Vitoria beobachtet haben.
Machen Leute aus Gaza nun ihr Recht geltend, in ihre Dörfer und Städte
zurückzukehren, so sehen sie sich dem von Falk beschriebenen tragischen
Dilemma gegenüber: entweder zu kapitulieren und dieses Recht aufzugeben
(weil Israel und die internationale Gemeinschaft es nicht achten werden), oder
aber gewaltsam „Widerstand“ zu leisten und dann das Völkerrecht zu brechen,
weil sie israelische Zivilisten mit Raketen terrorisieren, die von zivilen
Wohngebieten aus abgefeuert werden (obwohl sie 2008/09 keine menschlichen
Schutzschilde einsetzten). Schössen sie von offenen Feldern in Gaza aus, so
würden sie, wie al-Zahar erläuterte, durch Israels haushoch überlegene Militärmacht
dezimiert werden. Sich an das Völkerrecht zu halten, bedeutet also
die sichere Niederlage. Der Verweis auf diese altehrwürdige Bestimmung des
Völkerrechts bedeutet keine Rechtfertigung terroristischer Gewalt, sondern
vielmehr eine Erklärung, warum es überhaupt dazu kommt (vgl. Hage 2003).
Ironischerweise suchen Fürsprecher der palästinensischen Sache Israel
unter die Haager Konvention zu zwingen, weil sie glauben, dies könne die
Besatzung abmildern. Letztlich wird dadurch aber wenig erreicht, weil
Sicherheitsbedenken und andere rechtliche Winkelzüge, wie fadenscheinig
auch immer, so gut wie sämtliche Handlungen Israels rechtfertigen können
– ob gegen Gaza oder in der Westbank.21 So bestimmen etwa die Genfer
Konventionen, dass der Besatzer die Bevölkerung nicht unterdrücken darf;
aber Israel darf aus absoluter militärischer Notwendigkeit Eigentum zerstören
(Art. 23[G] und 23 der Haager Konvention). Demnach ist Israels Politik der
Bestrafung durch das Abreißen von Häusern rechtlich abgesichert.22 Und das
gilt auch für den Krieg in Gaza. Das alte Recht auf Selbsterhaltung und kollektive
Bestrafung ebenso wie auf Prävention und vorwegnehmende Selbstverteidigung
überlebt im Völkerrecht ungeachtet der Menschenrechtsrhetorik
und der Rechtsinstrumente, die diese Praxis abmildern sollen. Unter Druck
werden Nationalstaaten heute ebenso wie in der Vergangenheit auf derartige
Maßnahmen zurückgreifen (vgl. Laursen 2004).
Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand 419
Wenn deren Führer behaupten, sie seien dazu durch terroristischen Widerstand
des Volkes unter Besatzung gezwungen, so liefert das Völkerrecht ihnen
gleich auch die Rechtfertigung für die Besatzung selbst: Notwendigkeit und
präventive Selbstverteidigung. Und obwohl das Recht auf die Besiedelung
„unbewohnten Landes“ keine legitime Begründung für imperiale Expansion
mehr ist, sind Kultivierung und Verbesserung noch immer mächtige Faktoren,
die die westliche Vorstellungswelt beeinfl ussen. Die israelischen Siedler
können so das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung beispielsweise
in den Augen vieler Nordamerikaner aushebeln, die die Palästinenser mit
„Indianern“ und die jüdischen Siedler (von denen viele Amerikaner sind)
mit ihren eigenen Vorfahren identifi zieren, die diese unterwarfen und das
Innere des Kontinents für die weiße Besiedelung erschlossen. Nicht umsonst
beziehen sich beide Seiten in Israel/Palästina auf die „Indianer“-Analogie.
„Wir sind keine Indianer“, erklärte Arafat und wollte damit sagen, dass die
Palästinenser nicht ausgerottet und von ihrem ererbten Land vertrieben
werden könnten (Usher 2004). Er irrte sich zum Teil. Sie können wirklich
enteignet werden, und wie zuvor wird das Völkerrecht helfen, zu diesem
Ergebnis zu kommen.
Was ist nun mit den Präventivschlägen, jenem antiken Recht, das die
humanistischen Autoren der frühen Neuzeit wiederentdeckt haben? Es
handelt sich um einen aufschlussreichen Anspruch, weil er sehr genau die
Angst erfasst, die ein kleines Land oder Volk erlebt, das an eine mächtigere
Einheit angrenzt oder von ihr besetzt gehalten wird. Die Asymmetrie wird
als unerträglich erfahren. Das Losschlagen gegen eine potentielle Bedrohung,
die man in dem militärischen und/oder demographischen Ungleichgewicht
erblickt, bevor diese sich aktualisiert, wird als Recht beansprucht. Im Nahost-
Konfl ikt ist dieser Rechtsanspruch auf unterschiedliche Weise wirksam. Er
macht die verborgene Wahrheit im Anspruch der Hezbollah aus, „Widerstand“
gegen Israel zu leisten, obwohl sie 2000 Israel dazu bringen konnte,
den Libanon zu verlassen.23 Aber er begründet auch Israels Anspruch, legitim
Syrien und den Iran anzugreifen und deren Nuklearkapazität zu zerstören.
Während Hezbollah das Ungleichgewicht verändern will, möchte der israelische
Staat es aufrechterhalten, um das Land gegen jegliche Bedrohung zu
immunisieren. Die Psychologie der Angst und die Politik der Prävention
sind Modalitäten der Besatzung ebenso wie des Widerstandes gegen sie.
Christoph Schlingensieb - 3. Jun, 19:06