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Grenzen, Defizite und Prinzipien der Rechtswissenschafte
Versteht man die Rechtswissenschaft als Wissenschaft vom geltenden Recht, so konzentriert sie sich dabei im Wesentlichen auf die Interpretation von Gesetzen und der aus den Gesetzen abgeleiteten Rechtsprechung und will daraus eine Erkenntnis über das geltende Recht gewinnen. Dies findet seine Grenzen zum einen in der Menge der Rechtsnormen und zum anderen in der fehlenden Kenntnis der tatsächlichen Wirkungen der Rechtsnormen.
In einem modernen, hochkomplexen Staat gibt es jedoch eine nicht mehr überschaubare Menge von Rechtsnormen (vgl. auch Staatsrecht, Völkerrecht). Es gibt in Deutschland mehr als 5.000 Gesetze und Verordnungen des Bundes,[4] zu denen die Gesetze und Verordnungen der 16 Bundesländer und die Rechtsverordnungen und Satzungen der Bezirke, Kreise, Verwaltungsgemeinschaften und Gemeinden hinzukommen, ganz zu schweigen von dem nicht zu quantifizierenden Volumen an Verwaltungsrichtlinien (wie z. B. die TA Luft, die TA Lärm) und den von Ausschüssen und Verbänden geschaffenen Normen, die faktisch ebenfalls Gesetzeskraft haben (wie z. B. die VOB, die DIN-Normen, die zahlreichen Richtlinien und Empfehlungen der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) für den Straßenbau, die LAGA usw.). Zudem regeln viele dieser Normen sehr spezifische und hochtechnische Sachverhalte und sind nur noch von Spezialisten, aber nicht mehr von fachfremden Juristen oder gar von Laien zu verstehen. Obendrein wenden sich zahlreiche dieser Normen an den fachtechnischen Spezialisten, dem die Gedankengänge eines Juristen fremd sind, was zu erheblichen Verständigungsproblemen zwischen dem Spezialisten und dem Juristen führen kann. Diese Normen sind häufig keineswegs eindeutig, widerspruchsfrei oder lückenlos, was nicht selten aber nicht bei der reinen Lektüre, sondern erst in der praktischen Anwendung erkennbar wird. Zudem gibt es Normen, die scheinbar eine sinnvolle Regelung enthalten, in der Praxis aber ihr Ziel weitgehend verfehlen und dafür erhebliche negative Auswirkungen entfalten (z. B. das Vergaberecht, das die Korruption kaum verhindert, aber die Vergabe erheblich teurer und langwieriger gemacht hat).
Alle Rechtsnormen müssen einigen grundlegenden Prinzipien genügen, die zum Teil vage, zum Teil aber auch sehr scharf formuliert sind. Dazu gehören das Prinzip „Keine Strafe ohne Gesetz“ (nulla poena sine lege) sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder der Einhaltung von Treu und Glauben. Insbesondere sollte in einem Rechtsstaat – dies ist ein wichtiger Begriff[5] – ausgeschlossen sein, dass ein Gesetz oder eine Verordnung rückwirkend erlassen wird.[6]
Die Rechtswissenschaft vermag die Auswirkungen der Rechtsnormen in der Realität nur durch die Sicht der staatlichen Rechtsprechung zu erkennen, da sie so gut wie keinerlei rechtstatsächliche Forschungen betreibt. Aber nur ein vergleichsweise winziger Teil der alltäglichen Rechtsanwendung führt zu Auseinandersetzungen vor Gericht. Über einen großen Teil des rechtlich relevanten menschlichen Verhaltens wird nicht gestritten, auch wenn das Verhalten nicht mit der juristischen Theorie übereinstimmt. Ein anderer beträchtlicher Teil wird aufgrund der wirtschaftlichen oder sozialen Machtverhältnisse außergerichtlich geregelt. Schließlich gibt es große Bereiche der Wirtschaft, in denen Streitigkeiten bewusst von staatlichen Gerichten ferngehalten und allenfalls von Schiedsgerichten entschieden werden, die weder ihre Verfahren noch ihre Entscheidungen publik machen. Das Studium der Rechtsprechung vermittelt somit nur einen winzigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit der Rechtsanwendung. Obendrein gibt es Urteile, die logisch und richtig und sinnvoll erscheinen, in der Praxis aber keineswegs das beabsichtigte Ziel erreichen, sondern im Gegenteil negatives und eigentlich nicht schutzwürdiges Verhalten legalisieren (z. B. die Stärkung des Auskunftsrechts von Aktionären, die kaum je einem einzelnen Aktionär geholfen hat, es dafür aber ermöglicht, die Beschlussfassung auf Hauptversammlungen mit endlosen, oft unerheblichen Fragen zu torpedieren).
Versteht man unter dem geltenden Recht nicht nur die Summe der Normen, die das menschliche Verhalten in einem bestimmten Gebiet zu regeln beabsichtigen, sondern auch ihre Rechtsfolgen, also die tatsächlichen Auswirkungen dieser Normen bzw. die Art und Weise, wie diese Normen von den Betroffenen verstanden und angewendet werden, muss man zu dem Ergebnis kommen, dass die Rechtswissenschaft nur die Oberfläche des geltenden Rechts zu erkennen vermag und gelegentlich auch falsche Schlüsse daraus zieht.
Christoph Schlingensieb - 10. Jan, 18:26